Künstlerbuch oder Künstlerpublikation? Lia und Dan Perjovschi. Autodrawings und Endless Collection, Kunsthalle Göppingen 2003

Viola Hildebrand-Schat 

Dan Perjovschi ist spätestens seit der 48. Biennale 1999 in Venedig und der documenta fifteen 2022 in Kassel einem breiten Publikum durch seine Zeichnungen im öffentlichen Raum bekannt – Wortgebilde im wahrsten Sinne, semiotische Verflechtungen aus verbal- und bildsprachlichen Zeichen. Die Darstellungen gleichen in ihrer Einfachheit schnell auf Hauswände gesprühten Slogans, greifen aber mit Witz und Anspielungen weiter. Auf einfachste Formen, zumeist Konturen reduziert erscheinen sie allgemein verständlich, sind gleichwohl aber voller Anspielungen, nicht zuletzt solchen, die aus Buchstaben- oder Silbenumstellungen wie auch der Verknüpfung von Bild- und Textzeichen resultieren. Mit dieser scheinbar einfachen und zugleich höchst komplexen Äußerungsform schreibt sich der Künstler in einen öffentlichen Diskurs ein, der, wie er wiederholt deutlich macht, den Stellenwert von Kunst innerhalb eines von Politik und Ökonomie bestimmten Gesellschaftssystems deutlich macht. Allerdings beansprucht Perjovschi keine Deutungshoheit für sein Werk. Im Gegenteil ist es geradezu dafür prädestiniert, unter unterschiedlichen Blickwinkeln erfasst und verstanden zu werden. Eine solche Auseinandersetzung mit dem Werk des Künstlers begründet sich aus ihrem reaktiven, orts- und zeitspezifischen Ansatz.

Den Wandzeichnungen, die Perjovschi seit den frühen 1990er Jahren im öffentlichen und halböffentlichen Raum in den Museen westlicher Länder ausgeführt hat, geht eine Entwicklung voraus, die sich mit der Biografie des Künstlers im repressiven System Rumäniens verknüpft, die aber wesentlich die Besonderheit der Zeichnungen und ihrer Genese begründet.

Dan Perjovschi. Autodrawing, 2003
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Licht, Luft, Papier und Wand – Arbeiten mit dem Raum oder Fritz Balthaus‘ Poststudio

1982 erscheint ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Nichtssagender Titel“. Autor ist der Künstler Fritz Balthaus, dessen buchkünstlerischen Publikationen sich keineswegs auf den Nichtssagenden Titel beschränken, vielmehr dieser erst den Anfang eines umfangreichen Oeuvres bildet, zu dem etliche weitere Auseinandersetzungen mit dem Buch und seiner Wesenhaftigkeit gehören. Solche Reflexion des Buches erfolgt unter anderem mittels der Publikationen anderer Autoren, wie etwa dem beim Merve Verlag erschienen Titel Die Weiße Zelle, der deutschen Übersetzung von Brian O’Dohertys 1976 erschienenem Essay The White Cube. Indem Balthaus den Titel durch einen geringfügigen Eingriff manipuliert, macht er sich das Buch zu eigen. Aus „Zelle“ wird „Zeile“ und mit Blick auf die nun weiße Zeile sind alle im Buch auftretenden Zeilen als weiß vorzustellen. Konkret heißt das, dass das Buch leer scheint, dafür aber aufnahmebereit für jeden beliebigen Inhalt. Der solchermaßen leer erscheinende Raum im Buch erweist sich als Äquivalent des als „White Cube“ bezeichneten neutralen Ausstellungsraumes, wie ihn O’Doherty zum Gegenstand seines Textes genommen hat.

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Sheree Domingo: Ferngespräch – eine Graphic Novel

Eigentlich bedarf die Graphic Novel keiner weiteren Erläuterungen, ist doch diese besondere, auf Bilder basierte Weise des Erzählens weit verbreitet. Die Bezeichnung geht auf Will Eisner zurück, dessen 1978 erschienenes Buch Ein Vertrag mit Gott. Miethausgeschichten als eine der ersten Graphic Novels gilt. Vorläufer haben Graphic Novels allerdings im Comic Strip. Doch waren Comics anfänglich für Zeitungen konzipiert und entsprechend in ihrem Umfang wie auch in ihrem Format von den an die Zeitung gestellten Anforderungen bestimmt, sind Graphic Novels von Anbeginn an auf ihr Erscheinen in Buchform hin angelegt. Entsprechend wird auch der Umfang einer Graphic Novel vom Autor und/oder Zeichner bestimmt. Allerdings sind Graphic Novels nicht notwendig eine Gemeinschaftsarbeit. Im Gegenteil liegen Text und Zeichnung oft in einer Hand, so auch bei Will Eisners Ein Vertrag mit Gott.

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Nino Bulling: abfackeln – Eine Graphic Novel

Gut zwei Wochen vor Eröffnung der documenta fifteen liegt mit Abfackeln eine neue Graphic Novel von Nino Bulling vor. Das Buch erscheint zwar zu Bullings Ausstellung an der documenta fifteen, bedarf aber mit Sicherheit nicht des Rahmens der Großausstellung in Kassel. Denn das Thema von Bulling ist hochaktuell, erfasst seine Darstellung doch eine von Trans*Identität bestimmte Paarbeziehung, die sich mit weiteren Paarkonstellationen überkreuzen. In Bullings Buch steht das Beziehungsgefüge also im Umfeld von Persönlichkeitsfragen, wie sie in LGBTQ (jüngst LGBTQ A+) Gemeinschaften diskutiert werden. Die Folgen von Buchstaben bezeichnet die verschiedenen Möglichkeiten, die eigene Persönlichkeit jenseits einer Beschränkung auf Heterosexualität zu bestimmen.

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Cholin 100. Eine Werkauswahl in 3 Teilen

Die Rezeption einiger vergessener Dichter aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts erfolgte nach 1990 allmählich. Bekannt wurden Namen, die im Stalinismus systematisch ausgelöscht worden waren und darüber mehr oder weniger in Vergessenheit geraten waren, darunter Daniil Charms, Aleksandr VVedenski oder Vsevolod Nekrasov. Weniger Beachtung fanden im Zuge der Neuentdeckung andere, wie Genrich Sapgir oder Igor Cholin. Letztere gehörten einem Kreis an, der als Lianosovogruppe, der zu Sowjetzeiten eine kleine Gruppe von Literaten und Künstler umfasste, die sich in dem unweit Moskaus gelegenen Ort Lianosovo im Umkreis von Oskar Rabin zusammenfanden.

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Yuri Albert – Elitär-demokratische Kunst

Ausstellungskatalog, hrsg. von Sandra Frimmel und Sabine Hänsgen Texte (dt.) von Yuri Albert und mit Beiträgen von Dorothee Bienert, Frank Frangenberg, Georg Witte und ein Epilog der Herausgeberinnen 344 S. mit 190 farbigen Abbildungen, Format, 24 x 17,5 cm, Steifbroschur mit Leinenrücken
© Yuri Albert

Viola Hildebrand-Schat

Nachdem mit Mauerfall und offiziellem Ende des Kalten Krieges in westlichen Ländern im Zuge einer „Gorbi-Euphorie“ an verschiedenen Orten Ausstellungen zur russischen Kunst stattgefunden haben, ist es nun ruhig um die zeitgenössische russische Kunstszene geworden. Die Aufmerksamkeit, die von westlicher Seite einer lange übersehenen Entwicklung zu Teil wurde, ist abgeebbt, bevor es überhaupt zu tieferen Einblicken kommen konnte. Auch wenn Ausstellungen wie Moskau-Berlin/Berlin Moskau im Martin Gropius Bau in Berlin oder die zur nonkonformen Kunst in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt erste Einblick lieferten, ist damit noch lange nicht der Vielfalt der nachstalinistischen Kunst entsprochen.

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Die weibliche Seite Gottes. Kunst und Ritual

GEBETBUCH (MACHSOR), 1300–1330, Handschrift auf Pergament, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: Cod. Levy 37

Sofern überhaupt noch über Religion, religiöse und kultische Bräuche nachgedacht wird, sind sie durchweg patriarchal ausgerichtet, also auf eine als männlich vorgestellte Gottheit hin. Der patriarchale Gott beherrscht die großen Religionen wie das Judentum, das Christentum und den Islam. Dem gegen über tritt schnell in Vergessenheit, dass Religion, Glauben und männliche Gottheit keine notwendige Einheit bilden, dass es vielmehr auch Religionen gab, denen eine Göttin vorstand. Ebenso ist wenig oder gar nicht bewusst, dass dem männlichen Gott immer ein weiblicher Anteil eigen ist. Auf diesen Aspekt unter anderem führte die Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt hin, deren Inhalte dauerhaft in einem ebenso umfangreichen wie eindrücklichen Katalog fixiert sind.

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Chr. K. Jso Maeder. Journal um eine Erwartung

„Journal“ lässt auf eine Aufzeichnung schließen, eine Dokumentation gar, welcher Art auch immer… Tatsächlich handelt es sich beim Journal um eine Erwartung um ein Buch, hinter dem offenkundig eine doppelte Autorschaft steht, zieht man das an die Stelle des Autorennamens gestellte Kürzel Chr. K. mit dem Zusatz Jso Maeder in Betracht. Doch leicht macht es der, machen es die Autoren dem Leser nicht. Das Journal um eine Erwartung umfasst ein dichtes Konglomerat aus Texten und Zeichnungen, von der Struktur einem Comic oder einer Graphic Novel ähnlich, jedoch ohne eine konkrete Handlungsabfolge, einen Erzählstrang oder überhaupt einen stringenten Verlauf erkennen zu geben.

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Silvie und Chérif Defraoui: Archive der Zukunft

Als „Archives du future“ bezeichnen die beiden Künstler Silvie und Chérif Defraoui ihre gemeinsame Arbeit, lassen dabei aber jede weitere Spezifizierung offen. Einem breiteren Publikum bekannt geworden ist das Künstlerduo spätestens durch seine Teilnahme an der documenta 9 in Kassel, wo sie ihre Auseinandersetzung mit Fragmentierung und der Erkennbarkeit des Ganzen im Fragment zur Disposition stellten.

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Pavel Pepperstein. Die Auferstehung Pablo Picassos im Jahr 3111 / Возрождение ПаблоПикассо в 3111 году

Herausgegeben von Matthias Haldmann, anlässlich der Ausstellung im Kunsthaus Zug, 26. Februar bis 21 März 2017, erschienen bei ciconia ciconia, Berlin 2017

Viola Hildebrand-Schat

Im Kunsthaus Zug ist der der zweiten Generation der Moskauer Konzeptualisten zugehörende Pavel Pepperstein seit langem eingeführt. Seit 1998 agiert er als „Gastgeber“ für Künstlerkollegen. Zwischen 1998 und 2002 lud er zu Ausstellungen wie Binokel und Monokel (1998), Vater und Sohn. Viktor Pivovarov und Pavel Pepperstein (1999), Mozes. Die Künstlergruppe Russia (2000), Die Ausstellung eines Gesprächs. Ilya Kabakov und Boris Groys (2001) sowie Traum und Museum ein. Die Ausstellungen mit ihren unterschiedlichen Gästen verbindet ein dialogisches Element. So sind nicht nur alle Ausstellungen als eine Art Dialog zwischen Pepperstein und den von ihm geladenen Künstlern oder Wissenschaftlern zu verstehen, sondern ebenso als einer, der die Besucher unmittelbar einbindet.

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