Sheree Domingo: Ferngespräch – eine Graphic Novel

Eigentlich bedarf die Graphic Novel keiner weiteren Erläuterungen, ist doch diese besondere, auf Bilder basierte Weise des Erzählens weit verbreitet. Die Bezeichnung geht auf Will Eisner zurück, dessen 1978 erschienenes Buch Ein Vertrag mit Gott. Miethausgeschichten als eine der ersten Graphic Novels gilt. Vorläufer haben Graphic Novels allerdings im Comic Strip. Doch waren Comics anfänglich für Zeitungen konzipiert und entsprechend in ihrem Umfang wie auch in ihrem Format von den an die Zeitung gestellten Anforderungen bestimmt, sind Graphic Novels von Anbeginn an auf ihr Erscheinen in Buchform hin angelegt. Entsprechend wird auch der Umfang einer Graphic Novel vom Autor und/oder Zeichner bestimmt. Allerdings sind Graphic Novels nicht notwendig eine Gemeinschaftsarbeit. Im Gegenteil liegen Text und Zeichnung oft in einer Hand, so auch bei Will Eisners Ein Vertrag mit Gott.

Auch bei Sheree Domingos 2019 bei Edition Moderne erschienenen Graphic Novel Ferngespräch liegen Bilder und Text in einer Hand – eben Sheree Domingo, die in Bild und Text eigene Erlebnisse verarbeitet. Diese knüpfen an die Erfahrungen ihrer Mutter an, die nach der Ölkrise 1973 von den Philippinen nach Deutschland einwanderte und eine von vielen Auswandererinnen ist, die vor allem als Krankenpflegerinnen und Haushaltskräfte arbeiten. Sheree Domingo ist bereits in Deutschland geboren und kennt den philippinischen Teil ihrer Familie nur vom Erzählen. Aber am Beispiel ihrer Mutter erlebt sie, was räumliche Distanz bedeutet und wie bedrückend es sein kann, von der Ursprungsfamilie so weit entfernt zu leben. Die ausgewanderten Kinder sehen oft jahrelang ihre Eltern nicht mehr. Lediglich können sie mit dem in Deutschland verdienten Geld ein wenig ökonomische Sicherheit in ihre Ursprungsfamilien bringen.

Die Erinnerungen an die ferne Familie fixiert Domingo in Bildern von Wasser, Strand und Schwimmen. Wie ein Leitmotiv tritt ein großer rosa-roter Schwimmring in Erscheinung, der aber hauptsächlich Wunschvorstellungen der Erzählerin verkörpert. In der Bilderzählung überlagern sich Erinnerungen und Wünsche von Mutter und Tochter. Die von den Philippinen eingewanderte junge Frau erinnert sich ihrer eigenen auf den Philippinen zurückgelassenen Mutter ebenso wie die Erzählerin hier eine Begegnung mit der Großmutter sucht, die sie nicht persönlich kennt. Im Gelb scheint eine ferne, Wärme verbreitenden Sonne zu dominieren, zugleich aber tritt aus der gelben Fläche die rot konturierte Zeichnung eines Körpers hervor. Da es sich hier offenkundig um den Körper einer alten, ans Bett gefesselten Frau handelt, wird deutlich, dass die Erinnerungen keineswegs nur sonnig sind. Und so sind auch nicht alle Bildseiten von heiteren Farben getragen. Im Gegenteil ist jede Doppelseite von einem Farbton beherrscht, der mehr Nachdenklichkeit als Unbeschwertheit signalisiert. Als die Erzählerin in ihren Schulferien die Mutter zur Arbeit ins Altenheim begleitet, breitet sich ein Grünton über die Seiten, dessen kühle, gläserne Transparenz an die Sterilität erinnert, die oft in Pflege- und Altenheimen vorherrscht. Abgelöst wird das Grün schließlich vom Blau nächtlicher Erfahrungen. Eine Heimbewohnerin, deren Mann gerade verstorben ist, irrt durch ihre Erinnerungen und verliert sich im realen Raum.

Tatsächlich scheinen die Farben ein Ausweis von Ferngespräch zu sein, denn im Unterschied zu den gezeichneten, von Linien und Flächen und Schwarz-Weiß-Kontrasten bestimmten Graphic Novels führt Domingo ihre Bilderzählung in einer an Aquarellmalerei erinnernden Technik aus. Die Erzählung verläuft fast vollständig in Bildern, in die nur verhalten einige Sprechblasen einbrechen.

Die 1989 in Böblingen/Baden-Württemberg geborene Künstlerin studierte an der Kunsthochschule in Kassel und an der Luca School of Arts in Brüssel. Als Zeichnerin arbeitet und lebt sie in Berlin. Für Ferngespräch war Domingo 2016 Finalistin des Comicpreises der Berthold Leibinger Stiftung. Für ihr gemeinsam mit Patrick Spät erstelltes Buch Madame Choi und die Monster, das im Herbst 2022 bei Edition Moderne erscheint, erhält sie zusammen mit Spät den Comicpreis der Berthold Leibinger Stiftung.

Sheree Domingo
Ferngespräche, 2019
Edition Moderne