Cholin 100. Eine Werkauswahl in 3 Teilen

Die Rezeption einiger vergessener Dichter aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts erfolgte nach 1990 allmählich. Bekannt wurden Namen, die im Stalinismus systematisch ausgelöscht worden waren und darüber mehr oder weniger in Vergessenheit geraten waren, darunter Daniil Charms, Aleksandr VVedenski oder Vsevolod Nekrasov. Weniger Beachtung fanden im Zuge der Neuentdeckung andere, wie Genrich Sapgir oder Igor Cholin. Letztere gehörten einem Kreis an, der als Lianosovogruppe, der zu Sowjetzeiten eine kleine Gruppe von Literaten und Künstler umfasste, die sich in dem unweit Moskaus gelegenen Ort Lianosovo im Umkreis von Oskar Rabin zusammenfanden.

Über einen sehr begrenzten Kreis von „Eingeweihten“, also Freunden und Bekannten der Künstler hinaus, wurden weder die Gruppe noch die Zusammenkünfte sonderlich beachtete. Doch bildete sie den Kern einer als Nonkonformen bezeichneten Entwicklung. Künstlerisches und literarisches Schaffen formierte sich hier zu einer mehr oder weniger untrennbaren Einheit, denn viele der Beteiligten schrieben und zeichneten, banden Texte in ihre künstlerischen Arbeiten oder Bilder in ihre literarischen Arbeiten ein. Signifikant wird solche Text-Bild-Union etwa in den Alben von Viktor Pivovarov. Pivovarov ist auch ein näherer Blick auf Cholin zu danken, denn zu einem seiner Alben gehört eines, das unter dem Titel „Cholin und Sapgir frohlockend“ eine dichte Folge kommentierter Bilder enthält. Während über die Alben Pivovarovs wenigstens die Person Cholins in den Blick trat, blieben die Gedichte von Cholin – zumindest im Westen – praktisch unbekannt. In Russland kamen sie nicht über die handschriftlich Aufzeichnung in einem Heft hinaus und wurden so nie wirklich breitenwirksam publiziert. In Form handschriftlicher Aufzeichnung fanden sie zwar Eingang in Archive, wie etwa dem in der Garage. Museum für zeitgenössische Kunst oder auch in das des Zentrums für Osteuropaforschung in Bremen.

Tieferen Einblick in das Schreiben von Cholin gibt eine von Aspei herausgegebene dreibändige Ausgabe. Sie führt Poesie, Prosa und ein Bio-Interview zusammen. Das Bio-Interview ist die Verschriftlichung einer Videoaufnahme, in der Cholin über sich und sein Leben berichtet. Die russischen Texte sind von Wolfram Eggeling, Gudrun Lehmann, Günter Hirt und Sascha Wonders ins Deutsche übertragen, die Bände von Martin Hüttel gestaltet und in einer Kassette zusammengestellt.

Igor Cholin schildert mit lakonischer Diktion das Alltagsleben der Wohnsiedlungen mit ihrer Aggressivität, Kriminalität und Armut. Ein Beispiel ist der handschriftlich mit blauer Tinte niedergelegte Text in einer Samisdat-Ausgabe, also einer vom Autor selbst verfertigten kleinen „Publikation“, für die ein hellgrünes Bilanzheft den Rahmen lieferte. In wenigen, aber umso eindrücklicheren Zeilen erfasst Cholin die Verzweiflung, die sich im sowjetischen Alltag breitmachen konnte, aber nicht gesehen und beachtet werden durfte: „Es geschah im Monat Mai: / Raja aus der Wohnung sechs / Hing am Strick ganz stumm. / Keiner weiß, warum . . . / Es geschieht so allerlei.“
Kaum weniger lakonisch, aber durchaus mit witziger Konnotation liest sich der Text Kettenreaktion. Die von Zufällen geleiteten Zusammenhänge, vor allem aber die Art und Weise ihrer Wiedergabe, erinnert an die Prosa von Daniil Charms. Kettenreaktion beschreibt die folgenreichen Abläufe, die ein aus dem Fenster geworfenes Einmachglas auslöst. Ob aus Unachtsamkeit, Ungeschicklichkeit oder Gedankenlosigkeit geworfen, bleibt ebenso offen wie die Empfindungen der diversen Beteiligten. Doch gerade damit ist scheinbar äußerliche Empfindungslosigkeit des sowjetischen Alltags, hinter der sich eine Haltung der Resignation verbirgt, umso treffender erfasst.

Solches und mehr findet sich also in den drei von Aspei herausgegebenen Bänden. Die in Es starb der Erdball zusammengestellten Gedichte entstanden zwischen 1965 und 1971 und bezeichnen die zwischen Avantgarde und Underground angesiedelte Poesie der alltäglichen Redewirklichkeit. Ein glücklicher Zufall enthält hundert Kurzerzählungen, die kaum mehr als eine bis anderthalb Seiten umfassend, einen beträchtlichen Teil von Cholins Prosawerk ausmachen. Auch sie erfassen den sowjetischen Alltag, aber auch zu Teilen den postsowjetischen. Alles in allem treffen hier Skurriles, Abgründiges, Tragikkomisches und Tragisches zusammen. Und wie in den Alben Pivovarovs oder auch Kabakovs mischen sich gelebte und erträumte Wirklichkeit, um Resignation wie Wunschdenken gleichermaßen Ausdruck zu verleihen. Im Bio-Interview erzählt Igor Cholin über sein Leben. Die sich um seine Person rankenden Legenden vom Obdachlosen, im Krieg verwundeten Offizier und Insassen eines Straflagers finden hier eine Auflösung. Auch, wie er zur Literatur gekommen ist, beschreibt Cholin im Bio-Interview. toLookAt

Cholin 100
Eine Werkauswahl in 3 Teilen
Bochum: Edition Aspei 2020
www.aspei.de