Pavel Pepperstein. Die Auferstehung Pablo Picassos im Jahr 3111 / Возрождение ПаблоПикассо в 3111 году

Herausgegeben von Matthias Haldmann, anlässlich der Ausstellung im Kunsthaus Zug, 26. Februar bis 21 März 2017, erschienen bei ciconia ciconia, Berlin 2017

Viola Hildebrand-Schat

Im Kunsthaus Zug ist der der zweiten Generation der Moskauer Konzeptualisten zugehörende Pavel Pepperstein seit langem eingeführt. Seit 1998 agiert er als „Gastgeber“ für Künstlerkollegen. Zwischen 1998 und 2002 lud er zu Ausstellungen wie Binokel und Monokel (1998), Vater und Sohn. Viktor Pivovarov und Pavel Pepperstein (1999), Mozes. Die Künstlergruppe Russia (2000), Die Ausstellung eines Gesprächs. Ilya Kabakov und Boris Groys (2001) sowie Traum und Museum ein. Die Ausstellungen mit ihren unterschiedlichen Gästen verbindet ein dialogisches Element. So sind nicht nur alle Ausstellungen als eine Art Dialog zwischen Pepperstein und den von ihm geladenen Künstlern oder Wissenschaftlern zu verstehen, sondern ebenso als einer, der die Besucher unmittelbar einbindet.

Beispielsweise beschreibt Pepperstein seine erste Ausstellung Binokel und Monokel als eine Folge von Fragen, die jedoch nicht verbal formuliert sind, sondern sich in mit schwarzer Farbe direkt auf die Wände aufgetragenen Zeichnungen stellen. In den Zeichnungen offenbart sich die dem Künstler eigene Ikonographie, die mit einer Reihe von Bildnissen und Zeichen – Fahnen, oval-eiförmigen Konturen und dem an einen Mond aus einem Kinderbilderbuch erinnernden, symbolhaft aufgeladen Gesicht einen kryptischen Text bildet. In dieser Unzugänglichkeit bekunden sich die Prinzipien der Inspektion Medizinische Hermeneutik, der 1988 von Pepperstein gemeinsam mit Sergei Anufriev und Vladimir Fedorov begründeten Künstlergruppe. Die Auftritte der Künstler mit ihren Manifestationen sind nicht weniger hermetisch. Sie sperren sich gegen Zuordnung zu Vertrautem, zu stilistischen Ausformungen oder Konzepten. Vielmehr gehören zu ihren Prinzipien Interpretieren, Kommentieren, Analysieren und Untersuchen in Form von Performance oder Installation, um so wissenschaftliche Gesten, Schreibweisen und künstlerische Verfahren wie einen medizinischen Fall zu behandeln. Damit stellen sie geläufige Formen der Auseinandersetzung mit Kunstwerken auf den Kopf, die über Beschreibung, Analyse und Interpretationen einen Zugang zum Werk suchen, und erklären eben dieses Verfahren der Entschlüsselung selbst zur Kunst. Die sich hier bekundende Überschreitung der Grenze zwischen Werk, Werkbetrachtung und Werkinterpretation ist nur mehr ein weiterer Schritt in einer Folge von Grenzüberschreitungen. Auch wenn Pepperstein zunächst über die Kunstszene Bekanntheit erlangte, ist er nicht weniger schreibender Künstler, zu dessen Oeuvre Romane wie Binokel und Monokel, Die mythogene Liebe der Kasten, Svastika oder Kriegsgeschichten gehören. Solchermaßen textliche und bildliche Ausdrucksformen miteinander verschmelzend reiht er sich in die Tradition der Moskauer Konzeptualisten, die sämtlich sich ebenso schreibend wie zeichnend und malend äußerten.

Peppersteins jüngster Auftritt im Kunsthaus Zug ist nun die Ausstellung Die Auferstehung Pablo Picassos. In ihr verschmelzen Schreiben, Malen und Zeichnen in der Personalunion von Schriftsteller und Künstler.

Die Ausstellung im Kunsthaus Zug liegt nun zwar einige Jahre zurück, doch ist sie weiterhin greifbar geblieben durch die zur Ausstellung erschienene Publikation, die von ihrem Anspruch her ebenso permanente Ausstellung in Buchform wie auch Künstlerbuch ist. Mit kuratorischer Sorgfalt ist das Layout auf die Gegenüberstellung von Text und Bild, die narrative Abfolge und nicht zuletzt die Zweisprachigkeit abgestimmt. Mit Blick auf die Muttersprache des Künstlers findet neben dem deutschen Text die russische Originalversion volle Berücksichtigung.

Die Die Auferstehung Pablo Picassos im Jahre 3111 tragende Geschichte ist schnell erzählt. Angesiedelt zwischen künstlerischer Fiktion und Bezügen zur Realität veranlasst sie jedoch wiederholt dazu, ihre reine Fiktionalität anzuzweifeln, sie vielmehr als eine verschlüsselte Beschreibung wahrer Begebenheiten zu lesen. In diesem Punkt ist Pepperstein ein gelehriger Nachfolger der älteren Konzeptualisten, als deren bekanntester Vertreter wohl Ilya Kabakov zu nennen ist. Kabakov beginnt in seinen als „Alben“ bekannt gewordenen Bilderzyklen Geschichten zu erzählen, deren Protagonisten zwar dem sowjetischen Alltag entstammen, diesen aber qua ihrer Fantasie schnell hinter sich lassen und in fantastische Welten aufbrechen, nicht selten buchstäblich in den Kosmos fliegen.

Die Auferstehung Pablo Picassos im Jahr 3111 ist in der ersten Person Singular aus der Perspektive Peppersteins abgefasst. Der Künstler beschreibt, wie er über einen Freund in das Nikolaj-Fjodorow-Institut, ein außerhalb Moskaus liegendes Forschungszentrum eingeladen wird, sich in seiner Funktion als Künstler an der Resozialisierung Pablo Picassos zu beteiligen. Den Forschern des Institutes war es gelungen, den 1976 verstorbenen Künstler physisch auferstehen zu lassen, doch psychisch scheint die Auferstehung noch nicht ganz gelungen. Hier nun soll Pepperstein in einer Mischung aus Coach und Therapeut wirken. Die Kapitel, in denen Pepperstein seine Erlebnisse mit Picasso schildert, sind in Analogie zu den stilistischen Abfolgen in Picassos Werk als „Perioden“ bezeichnet, wobei jedoch tunlichst die blaue wie auch die rosa nicht zur Sprache kommen, vielmehr die den zur Rede stehenden Perioden zugeordneten Farben mit komplexen Deutungen aus Mystik und Sufismus erläutert werden. Die nach Farben geordneten Perioden rekurrieren aber nicht weniger auf die Prinzipien der Moskauer Konzeptualisten, die bei aller Zurückhaltung des Ausdrucks gleichwohl teilweise ein ausgefeiltes Farbenkonzept verfolgten.

Im Verlauf der Schilderung kommt es nicht nur zu einer zunehmenden Annäherung zwischen dem russischen Künstler der Gegenwart und dem in der Avantgarde des 20. Jahrhunderts verorteten Wahlfranzosen Picasso, sondern ebenso zu einer Überlagerung der künstlerischen Prinzipien. An diesem Punkt wird der Bildteil der Publikation interessant, gibt er doch die Werke wieder, von denen Pepperstein in seinem Bericht spricht. Vorgeblich handelt es sich um Werke des sich mehr und mehr in einen Arbeitsrausch steigernden Picassos. Doch angesichts der Bildformen treten Zweifel an der Autorschaft auf, durchdringen sich doch solche aus Picassos Vergangenheit und solche aus dem Kanon Peppersteins. Hinzu kommt, dass auch die Signatur P.P. nicht zwischen den beiden Protagonisten unterscheidet. Die Verschmelzung ist beabsichtigt und wird auch im Text thematisiert. So berichtet Pepperstein, dass seine Eltern den Namen Pavel – das russische Äquivalent zu Paul bzw. Pablo – aus Bewunderung für den Künstler Picasso gewählt hätten, also bereits vor seiner Geburt ein Moment der Identifikation anvisiert worden sei.

Unausgesprochen bleibt der Subtext, der sich durch die Bilder in der Publikation neben Peppersteins Bericht stellt. Pepperstein will zwar glaubend machen, dass es sich bei den reproduzierten Arbeiten um die Werke Picassos handle, nämlich solche, in denen der Künstler gezielt die Befreiung von seinen vorgängigen Arbeiten anstrebe, doch da sich in das Bildprogramm die Ikonographie Peppersteins drängt, verwischen sich die Anteile der Autorschaft. Die Überlagerung gipfelt in der Reproduktion des Kolobok, einer dem russischen Märchen entstammenden unförmigen Erscheinung, die schon früh in Peppersteins Werk gegenwärtig ist. Der Text, also Peppersteins Erzählung, führt zwar aus, dass es sich hierbei um eine absichtsvolle Imitation Picassos handle, mit der er – Picasso – sich eine neue Identität zu verschaffen und zugleich als Künstler zu verweigern suche – zumindest als der, als der er in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Doch gleichzeitig stellt sich die Frage, inwieweit nicht die ganze Geschichte der Versuch Peppersteins ist, sich mit Picasso zu identifizieren. Als künstlerischer Schachzug ist dabei zu werten, dass die Identifikation nicht durch Nachahmung von Seiten Peppersteins erfolgt, sondern umgekehrt durch seinen Widerpart, den er sich darüber zugleich zu unterstellen sucht. Von einem solchen Betrachtungswinkel aus wäre dann die ganze Geschichte der Versuch einer Selbstbeschreibung, die ihre Legitimation in dem allseits anerkannten Künstlergenie Picasso sucht.

Solche Orientierung an sanktionierten Vorbildern scheint für die russischen Künstler insbesondere nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Thema gewesen zu sein. Etwa stieg der den russischen Radikalen zuzuordnende Künstler Anatolij Osmolovskij bei einer Performance auf die an einem zentralen Platz in Moskau aufgestellt Majakowskij-Statue, um die Redewendung „sich auf die Schultern der Großen stellen“ in einem künstlerischen Akt zu demonstrieren. Auch wenn keiner der Künstler zum gegebenen Zeitpunkt einer solche Legitimierung des eigenen Kunstschaffens bedarf, zeigt sich doch das Bedürfnis, sich in einer Entwicklung zu verorten – gleichsam, um dem eigenen Werk eine Geschichte zu geben. Pepperstein tut das gleich in mehrfacher Hinsicht. Neben kunsthistorischen Referenzen, zu Picasso einerseits, Ilya Kabakov anderseits, referiert er zusätzlich auf die Wissenschaft. Seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen in Die Auferstehung Picassos im Jahre 3111 lässt er Interviews folgen, in denen alle am Projekt Beteiligte, vom Institutsdirektor bis zum Sanitäter zur Sprache kommen. Damit reihen sich, Erfahrungen und Sichtweisen aufsummierend, Berichten aus je individuellem Blickwinkel aneinander, um in der Zusammenstellung eine Form von Objektivität zu suggerieren. Unterstrichen wird die Authentizität der Berichte durch das Fachvokabular, das jeder Interviewte einfließen lässt, sowie durch Fotografien, in denen die Gesprächspartner porträtiert und so in ihrer Existenz bestätigt werden. Gleichzeitig wird eben dieser Eindruck sofort wieder aufgehoben, wird doch nur allzu deutlich, dass Pepperstein hier seine Freunde und Bekannten zum Posieren für die Porträts eingespannt hat.

Mit ihrer zwischen Realität und Fiktion angesiedelten Schilderung folgt Die Auferstehung Pablo Picassos im Jahre 3111 ganz den Prinzipien des Moskauer Konzeptualismus, der als Teil der nonkonformen Szene in der Sowjetunion offiziell nicht zugelassen, dennoch geduldet wurde. Die sich als Fiktionen ausgebenden Geschichten, die in Bild, Text und bisweilen auch installativen Arrangements von den Künstlern übermittelt werden, üben Kritik an den herrschenden Zuständen, den sozialen Strukturen und den repressiven Eingriffen, die das tägliche Leben unterwandern. Zwar fällt Peppersteins Auferstehung Pablo Picassos nicht mehr in die Sowjetzeit, doch indem der Künstler die Strategien der Nonkonformen aufgreift und fortführt, lässt er deutlich werden, dass sich die Situation in Russland in Punkto Freiheit des Ausdrucks und Durchsichtigkeit der Strukturen nur bedingt geändert hat. Nach wie vor suchen Künstler den Rückzug in ihren eigenkünstlerischen Welten, deren unterschwellige Kritik am System sie jederzeit als Fiktion deklarieren können.