Schauspiel Frankfurt, Kammerspiele
Die Figur der Phädra ist als zweite Gattin des König Theseus von Athen aus der griechischen Mythologie bekannt. Von Aphrodite verhext, verliebt sie sich in ihren Stiefsohn Hippolytos, der jedoch ihre Annäherung brüsk zurückweist. Aus Rache und Verzweiflung nimmt sich Phädra das Leben, nicht jedoch ohne eine Nachricht zu hinterlassen, in der sie die Tatsachen verdreht und Hippolytos beschuldigt, sie verführt zu haben. Von Theseus verflucht flieht Hippolytos, wird dabei jedoch Opfer des von Theseus beauftragten Meeresgottes Poseidon.

Der um Phädra angesiedelte Stoff ist vielfältiger Gegenstand in Kunst und Literatur. Zu den bekanntesten Rezeptionen zählen die von Euripides und Racine. Letzterer veredelt die Motive Phädras, indem er deren Amme zwischenschaltet und diese Hippolytos beschuldigt, sich an Phädra vergangen zu haben. Euripides hatte Phädra zunächst als schamlose und unbeherrschte Frau charakterisiert, damit aber wenig Erfolg bei seinem Publikum gehabt. In einer späteren Bearbeitung von Sophokles wird Phädras Verhalten aus der unendlichen Langeweile und Einsamkeit erklärt, in der sie sich am Athenischen Hof findet.
Jüngst hat sich die georgische Schriftstellering Nino Haratischwili, die durch ihren umfangreichen Roman Das achte Leben dem Stoff breite Bekanntheit erlangte, zugewandt. Sie greift den antiken Stoff als Auftakt einer von ihr geplanten Trilogie zu „starken Frauen aus der Mythologie“ auf – ein Themenfeld, für das das antike Drama reichlich Quellen bereithält Dabei richtet sie den Blick nicht nur auf die Frauen, sondern versucht die antike Situation in ein zeitgenössisches Licht zu stellen. König Theseus ist in die Jahre gekommen, die Kraft der Jugend ist verfolgen, sein Interesse an seiner Gattin Phädra abgeflaut. Doch muss er sich um den Fortbestand seiner Errungenschaften kümmern – die Verwaltung seiner Eroberungen, die Pflege seines Ruhmes und die Anerkennung seines Volkes. All das will er seinem ältesten Sohn Demophon übertragen, sobald dieser verheiratet ist. Als Braut hat er für sie die aus Kreta stammende Persea ausgewählt. Sie ist nun an den Hof von Athen gereist, um von Demophons Mutter in die Gepflogenheiten am athenischen Hofe eingeführt zu werden. Schnell zeigt sich, dass Persea ganz anders ist, als erwartet. Nicht nur zeigt sie sich freier in ihren Gedanken und äußert sie auch frei, sie steht auch zu ihren Empfindungen und gibt ihnen nach. Unweigerlich kommt es zur Kollision zwischen den am Hofe herrschenden Vorstellungen und denen der jungen Leute, die nicht nur durch das zukünftige Königspaar repräsentiert sind, sondern ebenso den jüngeren Bruder von Demophon. Acamas interessiert sich so gar nicht für den sportlichen Wettkampf, der in für den Krieg vorbereiten soll und ebenso wenig für die Regeln am Hofe. Er folgt seinen kindlichen Gepflogenheiten, die in der Aufzucht von allerhand kleinen Tieren besteht und der neugierigen Erkundung der nicht öffentlichen Welt der Erwachsenen. Mit der als Gemahlin für seinen Bruder bestimmten Persea, gespielt von Lotte Schubert, freundet er sich schnell an. Beiden gemeinsam ist, dass sie sich nicht ohne Weiteres in die Rollen fügen, die ihnen die Etikette vorschreibt. Ihnen stehen Standesbewusstsein und eingeübtes Rollenverhalten gegenüber, die meisterhaft in König Theseus verkörpert sind, der von Sebastian Kuschmann gespielt wird. Rückhalt findet es im Hohepriester Panopeos. Scheinbar um die Anerkennung des Königs durch das Athenische Volk bemüht, strebt er danach alte Riten wiederzubeleben, so auch das Menschenopfer. Sein Eifer dient ihm zugleich dazu, seine Herkunft und mehr noch seine zwiespältige Beziehung zum König zu verbergen. Sichtlich werden Anzeichen eines religiösen Fundamentalismus spürbar, die bestehende Ordnung droht auseinander zu brechen – und das in jeder Hinsicht: im Politischen wie im Privaten. Theseus reagiert mit einer radikalen Kehrwende, indem er versucht, die Regierungsgewalt mit aller Macht in seinen Händen zu halten. Doch nun sieht er sich auch den Angriffen seines zweitgeborenen Sohns Acamas ausgesetzt.

Hatte schon die antike Bearbeitung des Stoffes Phädra unter unterschiedlichen Blickwinkel erfasst und nicht zuletzt Racine ihre Wesenszüge gemildert, liefert Haratischvili ein eindrückliches Bild einer Frau, deren Leben zwischen den von außen gestellten Erwartungen und eigenen Wünschen und Vorstellungen zerfällt. Diesen Zwiespalt zu vermitteln gelingt nicht nur Haratischvili mit der Textvorlage, sondern Anna Kubin, die die Phädra spielt. Antiker Stoff und moderne Sichtweisen durchdringen nicht nur den Inhalt, sondern die gesamte Inszenierung. Das ist die Bühne, deren Bodenbelage mit einer kreisrunden Form vorsichtig den antiken Theaterbau andeutet, das sind ebenso die Gewänder und vor allem die Sprache, die Diktion und die Mimik der Schauspieler. In wohlgeformter Rede übermittelt sie die wesentlichen Inhalte des Stoffes, nicht ohne dabei auch Auskunft über ihre Empfindungen zu geben. So berichtet gleich zu Beginn Phädra, dass sie gleichsam als Ersatz für ihre Schwester Ariadne Königin von Athen geworden ist. Sie erzählt, wie ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet war und ist, die Macht ihres Gatten zu stützen, zu repräsentieren und die Wünsche des Volkes zu erfüllen. Eigene Vorstellungen und der Wunsch nach Privatheit haben da keinen Raum. Diese Offenbarung bricht aus ihr förmlich hervor. Sobald sie auf ihre eigenen Wünsche, Gefühle, Empfindungen zu sprechen kommt, ist sie von Bitterkeit erfüllt, die deutlich in Diktion und Wortwahl wird. Vor allem aber tritt an diesen Stellen die zeitgenössische Interpretation des antiken Stoffes deutlich hervor. Die von der Rolle der Königin geforderte Aufgabe all dessen, was die eigne Persönlichkeit ausmacht, versucht Phädra auch der jungen Persea zu übermitteln, sie zugleich darauf vorzubereiten, dass der Königshof im Grunde ein Gefängnis ist, in dem sie an keiner Stelle unbeobachtet sein wird. Er wird ihr auch keinen Raum bieten, eigene Interessen zu pflegen. Als bekannt wird, dass Persea über Kenntnisse in der Pflanzenheilkunde verfügt, bedroht sie der ambitionierte Priester Panopeos, den Andreas Vögler verkörpert. Er macht deutlich, dass Heilung nur die Götter gewähren und alles andere der Gefahr untersetzt, als Hexerei geahndet zu werden.

Aller Öffentlichkeit am Hofe zum Trotz liefert das Badehaus scheint das Badehaus einen Ort der Zuflucht für Privatheit zu bieten. Und hier entfalten sich die keineswegs heimlichen Gefühle, die Persea für Phädra hegt. Weist Phädra sie zunächst schroff zurück, erkennt sie doch schnell, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich ist. Ihre Gefühle bleiben nicht unbeobachtet. Acama, gespielt von Mitja Over, enttäuscht von der Vernachlässigung, die er durch Persea erfährt, lässt sich zu Äußerungen hinreißen, die unweigerlich das Ende der Tragödie einleiten. Persea wird festgenommen und von Panopeas als Opfer für das Pharmakos, das rituelle Menschenopfer ausersehen. Es ist zugleich die letzte Szene der Aufführung, in der Panopeas in einer dem antiken Drama abgeschauten Mauerschau die Geschehnisse eindrücklich allen Anwesenden übermittelt. Persea wird von Hunden zerfleischt und Demophon, der inzwischen erkannt hat, dass Theseus ihm nicht die Regentschaft übertragen wird, gelingt es nicht, ihr zur Hilfe zu eilen. Bei aller Ambivalenz, die sich mit den Rollen verbinden, gelingt es allen Schauspielern, ihre Charaktere sympathisch erscheinen zu lassen. Selbst dem radikalen, ja fundamentalistisch auftretenden Panopeas gelingt es, seine verletztliche Stelle zu offenbaren und damit Sympathie zu wecken.
Die Uraufführung von Haratischwilis Stück Phädra in Flammen fand im Mai 2023 am Berliner Ensemble statt, im Frankfurter Schauspiel ist das Stück seit der Sommersaison 2024 auf der Bühne.
BESETZUNG
Miguel Klein Medina (Demophon)
Anna Kubin (Phädra)
Sebastian Kuschmann (Theseus)
Mitja Over (Acamas)
Lotte Schubert (Persea)
Andreas Vögler (Panopeus)
TEAM
Regie: Max Lindemann
Bühne: Signe Raunkjær Holm
Kostüme: Eleonore Carrière
Dramaturgie: Lukas Schmelmer
Licht: Jan Walther