Kann die Wahrheit vom Tanz aus erreicht werden?

© Jeremy Shaw, Towards Universal Pattern Recognition (Businessmen’s Fellowship SEP 12 1976), 2020, Photo: Timo Ohler, ©the artist, Courtesy: the artist and KÖNIG GALERIE Berlin, London, Tokio

Zülküf Kurt

Seit dem 25. September ist im Frankfurter Kunstverein die Ausstellung des kanadischen Künstlers Jeremy Shaw zu sehen. Unter dem Titel “Phase Shifting Index” sind sieben Videoinstallationen zusammengefasst, die Einblick in die Wahrheit zu geben versprechen. Bereits in der Eıngangshalle sieht sich der Besucher mit neuronal gesteuerten Figuren konfrontiert, die Beziehung zwischen Raum und Raumverbundenheit aufzeigen sollen. Die sich hieran anschließenden Elektroschockwellen sollen den Teilnehmer auf die Ausstellung vorbereiten.

Im ersten Stock befinden sich drei Videoinstallationen, die den künstlerischen Duktus in verschiedenen Variationen wiedergeben, sowie eine Reihe von Fotoarbeiten. Einige sind unmittelbar auf die Wand appliziert, andere werden in speziellen Glasrahmen präsentiert, diedas Motiv einerseits dreidimensional erscheinen lassen, andererseits  in eine kristallähnliche prismatische Strutkur auflösen. In jedem Fall jedoch muss der Betrachter einen bestimmten Blickpunkt einnehmen, wird aber dennoch immer nur Teile sehen. Auf diese Weise sucht der Künstler dem Betrachter sein eigenes Fragmentiertsein wie auch die vage Beziehung zwischen den Dingen vor Augen zu stellen.

Die Videos zeigen Bildern von tanzenden Menschen, solchen, deren Bewegungen mechanisch wirken, und solche die sich frei bewegen. Einige Videoarbeiten  wiederum zeigen einzig Farben in Bewegung.

Ein zentrales Anliegen des Künstlers ist es, die verschiedenen Bezüglichkeiten in Frage zu stellen, also das Verhältnis des Betrachters zu sich selbst wie auch zu der ihn umgebenden Atmosphäre, der Gesellschaft, in der er lebt oder sich zugehörig fühlt. Das Beziehungsgefüge ist nicht ohne Kritik zu betrachten. Schließlich ist das Individuum immer ein Produkt seiner Umwelt, ein Organismus, in dem sich viele Einflüsse mischen, was der Künstler nicht zuletzt in den vielen sich einander durchdringenden Farben zum Ausdruck zu bringen sucht. Anhand der Tanzszenen demonstriert er, wie die Gegenwart des Menschen überall ihre Spuren hinterlässt, aber auch, wie sich die Menschen wechselseitig beeinflussen. Die Themen aller Filme verschmelzen zu einem sich wiederholenden und kathartischen Tanz, der zu einer einzigen hypnotischen musikalischen Spur wird, die die Räume zu einem pulsierenden, synchronisierten Ganzen vereint.

Eine wichtige Rolle im Aufzeigen der Beziehungsgefüge spielt der Ton. Er tritt als Summen oder auch als Vibration in Erscheinung – beides Artikulationsweisen, die weitgehend als Stille erfahren werden. Worte erscheinen demgegenüber wie Schreie. Und so wird deutlich, dass die Stimme nie wirklich verstummt. Was wir gemeinhin Stille nennen, besteht tatsächlich aus jenen Momenten, in denen wir uns der Außenwelt verschließen oder sie vollständig ignorieren.

Während ich über die Gründe nachdenke, warum der Künstler die Fragmentierung und die Vielfalt des Menschen in alle seinen Beziehungen durch Tanz zum Ausdruck bringt, konzentriere ich mich auf die die Dualität, die der Künstler als eine Eigenschaft des Menschen hervorhebt. Mir wird klar, dass er möchte, dass wir hinterfragen, was in unserer inneren Welt passiert, und wie wir gleichzeitig versuchen, all das durch Tanz oder Meditation aufzufangen, von uns zu weisen. Wir fragen uns, was die Quelle unserer Empfindungen ist. Können wir das Böse in uns überwinden? Oder heilt das Tanzen unsere Wunden? Neben diesen Fragen sucht der der Künstler unseren Blick auf unsere Bindungen zu anderen Menschen zu lenken. Egal wie unabhängig wir uns fühlen, bestehen doch eine Menge an Bindungen, die unser Leben ausmachen. Damit wird auch deutlich, dass der Einzelne nicht vereinzelt ist, sondern immer Teil der Gesellschaft.

Welchen Weg wir auch immer einschlagen, glauben wir fest daran, dass wir die Wahrheit erreichen werden. Jeremy Shaw versucht zu nun aufzuzeigen, dass Tanz eine Möglichkeit sein kann, sich mit den Beziehungen im Leben zu arrangieren.

Die Ausstellung geht bis zum 24. Januar 2011