Die Physiker am Schauspiel Graz

Viola Hildebrand Schat

Die Handlung von Dürrenmatts 1961 entstandenen Stücks ist hinlänglich bekannt. In einer Nervenheilanstalt begegnen sich Johann Wilhelm Möbius, Herbert Georg Beutler und Ernst Heinrich Ernesti, die sich alle drei nicht nur als Kernphysiker ausgeben, sondern zudem auch noch diese vorgebliche Identität mit weiteren überblenden – ein Täuschungsmanöver, mit dem sie ihre unmittelbare Umgebung und die Menschheit außerhalb der Psychiatrie irrezuführen suchen.

Dürrenmatt schrieb sein Stück vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und fasste dabei insbesondere die Konfrontation der Großmächte in den Blick, die zwar nicht unmittelbar auf eine Weltherrschaft setzen konnten, doch darauf bedacht waren, ein Kräftegleichgewicht zu wahren und den Gegner in Schach zu halten. Für eine solches Ausbalancieren der Macht schien kein Mittel zu gering, auch nicht die alles vernichtende Kraft der Nuklearbombe. Das Wissen um deren weitreichende Wirkung hängt seit Hiroschima als Damoklesschwert über dem, was euphemistisch als Weltfriede bezeichnet wird und einen Ausgleich zwischen den Supermächten herbeiführen sollte. In Dürrenmatts Stück entzündet sich dieser Zwist am Wissen der in der Psychiatrie einsitzenden Physiker, von denen zwei sich schließlich als Spione entpuppen, um den Dritten zu entführen. Eine verwirrende Situation, die gleichwohl bei Dürrenmatt in geordnete Abläufe gebracht, in einem chronologischen Nacheinander zu verfolgen ist, in der Grazer Inszenierung aber die Verwirrung bewusst aufgreift und vorantreibt.

Bossard hat die Ordnung in mehrfacher Hinsicht aufgebrochen. Das sind nicht nur allerhand bühnentechnische Raffinessen, wie die aktiv eingesetzten Möglichkeiten der Drehbühne mit ihren fortwährenden Veränderungen, sondern ebenso zahlreiche Einschübe in die schauspielerischen Auftritte, die Elemente der Popkultur wie Break Dance und Slapstick einbinden, auch eine dem Musical abgeschaute Durchmischungen von Gesang und Sprache, Untermischungen von englisch- und französischsprachigen Vortragsteilen und vor allem viel Bewegung, die sich dem gesamten Bühnenraum mitteilt. Zu denken ist an die Figur des Einstein, der von Anbeginn auf Rollschuhen die Bühne befährt. Den auf Rollen über die Bühne gezogenen Bögen schließt sich ebenso die Chefärztin der Nervenklinik Mathilde von Zahnd an.

Die Grenzen dessen, was gemeinhin als Normalität bezeichnet wird, lösen sich zunehmend auf. Ein erstes Befremden stiftet bereits die Besetzung der Rollen: sämtliche weibliche Rollen werden von männlichen Protagonisten gespielt, während umgekehrt die Physiker, der zur Aufklärung mehrfach herbeigerufene Kriminalinspektor und sein Gehilfe von weiblichen Darstellern gespielt werden. Dieser Geschlechtertausch ist aber keineswegs als ein Zugeständnis an die Genderfrage zu werten, denn im Rollenspiel werden männliche und weibliche Charaktere, wie sie einst von Dürrenmatt vorgesehen waren, beibehalten. Mehr noch: sie werden in jeder Hinsicht durch Gebaren und Kostümierung gestützt, wenn nicht gar ins Exzessive getrieben. Kaum sind die eleganten hohen Absätze der Ärztin zu übersehen, nicht die betont weiblich Verschämtheit von Schwester Monika oder Frau Rose, der ehemaligen Ehefrau von Ernesti, die von affektierter Gestik und Mimik untermalt werden.

Die Auflösung der Rollenzuschreibung findet sich in der Raumsituation der Bühne gespiegelt. Ein von Anbeginn an in Szene gesetztes Motiv ist der Raum im Raum. In der Grazer Inszenierung ist es ein gläsernes Kabinett, dass an die auf Bahnhöfen und an anderen öffentlichen Orten eigens für Raucher eingerichtet Zonen erinnert. Auch auf der Bühne wird das gläserne Kabinett zum Rauchen genutzt. Geraucht wird immer, wenn die Geschehnisse zu eskalieren scheinen, wenn Fragen aufkommen, für die keine Lösung in Aussicht steht. Das Rauchen wird zugleich zum Ausdruck der Abgrenzung des Personals in der Psychiatrie zu den übrigen Protagonisten. Die vorgeblichen Physiker rauchen ebenso wenig wie der Inspektor und sein Gehilfe. Einsteins Pfeife bleibt kalt. Das gläserne und anfänglich dem Rauchen bestimmte Kabinett wird im Verlauf des Stücks zunehmend zu einer Zone der Ausgrenzung, um am Schluss die Zelle zu verkörpern, in der die Physiker, deren Gefährlichkeit nun auch das Klinikpersonal zugestehen muss, eingesperrt sind.

Die sich auf diversen Ebenen vollziehenden Grenzauflösungen oder -verschiebungen hätten wenig Sinn, wenn sie nicht als Anspielung auf aktuelle Verhältnisse zu lesen wären. Allianzen, Verbünde und Kooperationen verändern sich, Beziehungsordnungen ermessen sich immer weniger in wechselseitigen Verhältnissen und sind vor allem nicht mehr rational begründet. Aufbrechende Ordnungen lassen sich in allen Bereichen des Lebens beobachten, ob im Gesellschaftspolitischen oder Privaten. Die Beliebigkeit eines Anything goes, längst eines der Charakteristika der als „postmodern“ bezeichneten Strukturen, scheint zum alles bestimmenden Ausdruck des Alltags geworden zu sein.

So verwundert es auch nicht, wenn gegen Ende des Stücks, als die Funktionen der Insassen der Psychiatrie entlarvt sind, eine Szene wechselseitiger Bedrohung und Verfolgung, in bester Manier eines Krimis dominiert, dabei die Chefärztin sich als das wahre kriminelle Element entpuppt und dezidierte Reflexionen über des von dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Kunsthistoriker tätigen Aby Warburgs viel zitierte Schilderung des Schlangenrituals aufgerufen werden. Die Schlange als Symbol der Bedrohung und in der christlichen Tradition mit Verführung und Hinterhalt konnotiert, ruft in Erinnerung, dass das Chaos in dem Augenblick in die Welt kam, als sich der Mensch von den Gott gesetzten Regeln abwandte und der Einflüsterung der Schlange folgte. Ob solche Assoziationen von der Regie mit angedacht waren, scheint in dem allgemeinen Spektakel, in das das Stück immer mehr ausartet, nicht weiter von Bedeutung. Für Unterhaltung aller Couleur ist allemal gesorgt, jeder Geschmack berücksichtigt – ob der des Liebhabers von Musicals, desjenigen von Popkonzerten oder der desjenigen von Schauspiel. Und intellektuelle Ansprüche sehen sich durch eine Vielzahl von Namen und wie nebenbei eingespielte Verweisungen, die neben Warburg, Oppermann, Eisler, Tolstoi, die Kreuzersonate, amerikanische indigene Kulturen und eine Zitatenfülle der Schlagerwelt aufrufen, herausgefordert.

Mitwirken Andri Schenardi in der Rolle von Mathilde von Zahnd, der Chefärztin der Privatklinik mit dem klingenden Namen Les Cerisiers, Matthias Ohner in der Rolle der Oberschwester Marta Boll, Frieder Langenberger in der Rolle der Schwester Monika Stettler, Julia Franz Richter als Newton, Tamara Semzov als Einstein, Sarah Sophia Meyer als Möbius, Alice Peterhand als Jörg Lukas und Anna Tropper-Lener als Wilfried Kasper. Mit zahlreichen Einlagen von Gesang und Akrobatik bringen sie das Potential der Schauspielkunst in vollem Umfang zur Aufführung.

unter der Regie von Claudia Bossard unter Mitwirkung von Frieder Langenberger, Sarah Sophia Meyer, Matthias Ohner, Alice Peterhand, Julia Franz Richter, Andri Schenardi, Tamara Semzov und Anna Tropper-Lener