Eva Aeppli – Selbstzeugnis und Mythisierung als künstlerische Strategie

Viola Hildebrand Schat

Aller Bemühungen zum Trotz das Werk von Künstlerinnen aus dem Schatten der Kunstgeschichtsschreibung hervorzuholen, gerät das der 1925 im schweizerischen Zofingen geborenen Eva Aeppli immer noch ins Hintertreffen. Grund ist das Zusammentreffen einer Reihe von Faktoren und sicher nicht zuletzt das Zutun der Künstlerin selbst. Obwohl vielfältig begabt, hat Aeppli sich nicht wesentlich um eine Ausbildung und schon gar nicht um die Entwicklung einer Karriere bemüht.

Die Anfänge ihres jungen Erwachsenendaseins sind überschattet von ungewollten Schwangerschaften und dem permanenten Gefühl, nicht sie selbst zu sein, nicht wirklich verstanden zu werden. Erste Erfahrungen einer Akzeptanz als Künstlerin macht sie ausgerechnet in der psychiatrischen Klinik Le Métaire bei André Melley, weitere Bestärkung erführt sie durch Jean Tinguely, mit dem sie 1953 nach Paris zieht. Gleichzeitig riskiert sie, durch Tinguelys Extrovertiertheit selbst nicht oder nur wenig wahrgenommen zu werden.

Hinzu komme, dass sie ihre bereits in der Schweiz begonnene unstete Lebensführung in Paris weiter fortsetzt. Immerhin erkennt sie, dass sie mit der Anfertigung von Puppen ein wenig Geld verdienen kann, wenn auch noch weit von einem künstlerischen Durchbruch entfernt. Ein solcher bahnt sich vorsicht durch den Kontakt zu Iris Leclert an, die sich für das zu interessieren beginnt, was Aeppli als ihr „wahres“ künstlerisches Schaffen bezeichnet – Kohlezeichnungen, deren düsterer Duktus die Bilder aus Konzentrationslagern reflektiert. Paradoxerweise treten eben diese Arbeiten, denen später Ölgemälde mit ähnlichen Sujets folgen, gegenüber den merkwürdigen, morbide anmutenden aus Stoff gefertigten Puppen in der öffentlichen Wahrnehmung Aepplis weiterhin zurück.

Ausstellungen, die das Werk der Künstlerin berücksichtigen, konzentrieren sich auf die Stofffiguren, die so regelrecht zum Ausweis der Künstlerin werden. Vom zeichnerischen und malerischen Oeuvre tritt indes kaum etwas an die Öffentlichkeit. Und noch weniger bekannt ist, dass Aeppli ein Korpus an Büchern geschaffen hat, das einen tiefen Einblick in ihren Lebenswandel gibt.

Der mangelnden Kenntnis um Leben und Werk der schweizer Künstlerin setzt nun der Kehrer Verlag mit seiner jüngst erschienen Monografie Eva Aeppli. Akrobatin zwischen Himmel und Erde eine eindrückliche Werk- und Lebensschilderung entgegen. In acht Abschnitten vollzieht die Autorin die künstlerische Entwicklung Aepplis nach, die ihre Anfänge in der anthroposophischen Schulausbildung nimmt, sich über eine von einem Vagabundendasein bestimmten Phase der Selbstfindung erstreckt und schließlich in jenes Werkschaffen mündet, mit dem Aeppli Einzug in die Kunstwelt hält. Als erste umfassende Monografie Aepplis leistet die Publikation einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung jener Anteile der Kunstgeschichte, die von Frauen „geschrieben“ wird. Vor allem aber – und dieser Umstand ist ebenso gewichtig zu werten wie die Neuerscheinung, lenkt die Monografie die Aufmerksamkeit erneut auf die schon vor vielen Jahren beim gleichen Verlag erschienenen Livres de vie Aepplis. Mit diesen über viele Jahre hin aus Fotografien, Briefen, Postkarten, Notizzetteln, Zeichnungen und vielen weiteren privaten Schriftstücken zusammengestellten Alben kreiert dokumentiert die Künstlerin ihren eigenen künstlerischen Kosmos.

Für den Außenstehenden mag diese lediglich über Papier greifbare Lebenswelt zunächst hermetisch erscheinen, sie begründet aber eine künstlerische Strategie, die Jahrzehnte später als individuelle Mythologie in der Kunstwelt sanktioniert ist. Sammeln und Akkumulieren als künstlerische Praxis belegt Armand nicht für den Nouveau Réalisme nicht weniger als Daniel Spoerri, mit dem Aeppli eine innige Freundschaft pflegt, wie unter anderem durch die Lebensbücher belegt. Die aus dem Alltag aufgegriffenen und ausgesonderten Gegenstände, im künstlerischen Zugriff aufgewertet, beginnen sich innerhalb der Kunst einen eigenen Platz zu erobern. Mehr noch beginnen von Künstlern erstellte Sammlungen, zu Bibliotheken und Archiven ausgeweitete Materialkonglomerate im Zuge von Erinnerungskultur in den Blick der Öffentlichkeit zu treten. Vor diesem Hintergrund gelangen die Skizzen- und Tagebücher Paul Steins in die Sammlung des Klingspor Museums in Offenbach am Main und verankern sich die als Architektur der Erinnerung und Kartographie einer Reise bezeichneten Installationen von Sigrid Sigurdsson dauerhaft im Bestand des Osthaus Museums in Hagen.

Aepplis Lebensbücher sind ein weiterer Beleg für die Bedeutung, die die vom Künstler angelegte Sammlung für das zeitgenössische Kunstschaffen hat. Gleichzeitig reihen sie sich in ein Genre, dass in den 1970er Jahren unter der Bezeichnung „Künstlerbuch“ erstmals seine Kategorisierung gefunden hat, fallen damit allerdings in einen Bereich der Kunst, der sich von Anbeginn seines Bestehens an schwergetan hat und nach wie vor größtenteils nicht richtig verstanden wird. Von einem vergleichsweise kleinen Kreis von Kennern des Genres abgesehen, können die meisten weder mit dem Begriff noch mit dem Gegenstand „Künstlerbuch“ etwas anfangen. Als vom Künstler ausgeführt oder doch zumindest konzipierte und veranlasste Publikation sind diese Art von Büchern nicht mit geläufigen Büchern zu vergleichen. Vielmehr fallen Künstlerbücher unter Kunstobjekte, aus denen sie aber allzu schnell aufgrund ihrer äußeren Gestalt, nämlich der des Buches, wieder herausfallen. So mögen auch Aepplis Lebensbücher leichtfertig als private Sammelalben abgewertet werden, deren Materialfülle den Duchschnittsbetrachter erschlägt.

In der Tat erfordern die Lebensbücher eine besondere Art der Lektüre, müssen doch Bild- und Textinformation aufeinander bezogen gelesen und doch zugleich als eigenständige Einheiten erfasst werden, an deren Aussagekraft wesentlich die Materialbeschaffenheit mitwirkt. So ist es nicht belanglos, ob ein Text auf einer Postkarte oder auf einem geblümten Briefpapierbogen erfasst wurde. Die in den Lebensbüchern sorgfältig fixierten Dokumente bilden also eine Art Lebensmitschrift, die weniger Auskunft über den Alltag, als vielmehr über das Lebensumfeld der Künstlerin gibt und deutlich werden lässt, wie sich darin ihr eigenes Empfinden und Schaffen verortet.

Begonnen 1954, ein Jahr nach ihrer Übersiedlung nach Paris, und 2002 durch ein endgültiges Ordnen als abgeschlossen erklärt, sind über ein halbes Jahrhundert hin rund 15 Bücher entstanden, die zunächst im festen Einband, später in spiralgebundenen Ordnern ihre Form finden. Äußerungen zur Absicht oder Zielsetzung gibt es nicht. Sie sind auch nicht notwendig, die Zusammenstellungen erklären sich selbst. Wie in einem Poesie- oder Freundschaftsalbum trägt Aeppli hier Belege ihrer Freund- und Bekanntschaften zusammen, um dazwischen immer wieder eigenen Skizzen, Studien und gelegentlich auch Fotografien ihrer eigenen Arbeiten einzufügen – gleichsam sich selbst innerhalb eines sozialen und künstlerischen Umfeldes verortnend.

Aus der spezifischen Anordnung ergibt sich ein stiller Dialog mit ihrer Umgebung, der offenlegt, was die Künstlerin selbst verschweigt. Aeppli, so ist allgemein bekannt, hat sich nie gerne zu ihren Arbeiten geäußert, und wenn – so sagt sie selbst, habe sie nicht die Wahrheit gesagt. Darin besteht ihre Art, sich vor allzu großer Zudringlichkeit zu schützen, sich in ihrem eigenen Kokon einzuspinnen. Einblicke geben lediglich ihre künstlerischen Arbeiten, von denen viele nur mehr durch die Livres de vie bezeugt sind weshalb dieses Lebensbücher zu einem wichtigen Dokument von Leben und Werk einer Künstlerin geworden, die weder bereit war, ihr Schaffen offenzulegen noch sich um dessen Rezeption zu bemühen. Als Künstlerbücher sind die Lebensbücher zudem ein ästhetischer Genuss, den, auch wenn es sich notwendig nur um Reproduktionen der Originale handeln kann, die Publikation des Kehrer Verlages zu vermitteln weiß.

Heidi Violand-Hobi: Eva Aeppli. Akrobatin zwischen Himmel und Erde

176 Seiten, 138 Farb- und S/W-Abbildungen

Festeinband, 22,5 x 30

Kehrer Verlag 2020

Eva Aeppli: Livres de Vie

288 Seiten, 224 Farb- und S/W-Abbildungen

Festeinband Grobleinen mit Siebdruck beschriftet, 24 x 32 cm

Kehrer Verlag 2005