Viola Hildebrand Schat
Entwürfe eigener Lebenswelten haben von je her Eingang in die Kunst gefunden. Sie sind so unterschiedlich wie die Beweggründe, die sie hervorbrachten. Doch spätestens seit der Documenta V, wo Harald Szeemann als Generaldirektor diesen künstlereigenen Lebenswelten unter der Rubrik „Individuelle Mythologien“ einen eigenen Platz einräumte, haben die künstlereigenen Welten auch Akzeptanz in der Kunstwelt gefunden. Der Weg zur Anerkennung ist allerdings lang und keineswegs so selbstverständlich, wie das vom heutigen Standpunkt aus scheinen mag. Wo ließe sich schließlich die Grenze zwischen Art brut, Kunst von Außenseitern oder gar Kunst von Geisteskranken ziehen – insbesondere dann, wenn es keine inhaltlichen oder formalen Abgrenzungen zu den Fantasien sanktionierter Künstler gibt?
Jean Dubuffet, der sich gut zwanzig Jahre vor Szeemann für ein Kunstschaffen außerhalb des Kunstmarktes interessierte, prägte den Begriff Art brut, wörtlich „rohe Kunst“. Unter „roh“ verstand der die Arbeiten von Autodidakten, Self made artists, also all jene Kreativen, die keine akademische Ausbildung genossen hatten und nicht selten kunst- oder bildungsfernen Schichten entstammten. Leitend für Dubuffet war „die persönliche Kaprice“. In ihr sah er den Antrieb dafür, „daß jedes Objekt ohne Unterschied zu einem Schlüssel der Verzauberung für den Geist werden kann, entsprechend der Art, in der man etwas anschaut, und den Ideenassoziationen, die es hervorruft.“ Eben dieser Verzauberung folgt schließlich Szeemann, indem er ohne Rücksicht auf begriffliche Zuweisungen all jene Künstler versammelt, die mit ihrem Oeuvre eine eigene Welt hervorbringen. Die von den Werken ausgehende Verzauberung löst auch die Grenze zwischen so unterschiedlichen Werken auf wie denen von Adolf Wölfli, Michael Buthe, Paul Stein oder Peter Wirz. Sie zeigen, dass weder die künstlereigenen Lebenswelten noch die individuellen Mythologien sich einem einheitlichen Konzept zuweisen lassen. Gemeinsam ist ihnen allen lediglich ein geradezu exzessives Vorgehen, aus dem im Einzelfall tausende von beschriebenen Blättern und Zeichnungen hervorgehen. Einziges Prinzip scheint zu sein, dass Gedachtes und Erlebtes, Empfundenes und Gesehenes nahtlos miteinander verschmelzen. Gemeinsam ist ihnen weiterhin, die Verquickung von bildnerischem und schriftlichem Ausdruck. Verbale Äußerungen werden entweder zur Erläuterung der Bildwelten herangezogen oder unmittelbar eingearbeitet. Der so vom Künstler hervorgebrachte Kosmos scheint für ihn selbst eine Lebenswelt bereitzustellen, die ihm nicht nur künstlerischen Freiraum gewährt, sondern auch als Fluchtburg dient, in der er sich gegen eine unliebsam empfundene oder problematische Realität verschanzen kann. Das eigene Werk bietet ihm Möglichkeiten, eine Welt nach seinen Maßstäben und Gesetzen zu schaffen und in dieser Hinsicht unterscheiden sich die künstlereigenen Lebenswelten nicht wesentlich von manch einer Parallelwelt, die das digitale Netz bereitstellt.
Als eine solche Parallelwelt ließe sich auch die Wirziana verstehen, jener Kosmos, den der Schweizer Peter Wirz im Laufe seines Lebens geschaffen hat. Wie viele andere auch, fanden er damals allerdings keine Aufnahmen unter die individuellen Mythologien. Umso bedeutsamer ist nun die Hebung seines Schaffens durch Andres Müry, einen Neffen des Künstlers, der nicht nur mit zeitlichem Abstand einen Überblick über das Gesamtwerk gewinnen konnte, sondern ihm bei der Aufarbeitung auch den entsprechenden Sachverstand und viel Einfühlungsvermögen zukommen lässt. Die Bezeichnung des Oeuvres als „Wirziana“ gründet in einer Selbstäußerung des Künstlers und rekurriert, in virtuoser Verarbeitung des eigenen Namens und so nicht ganz frei von einer ironischen Selbsteinschätzung, auf das Wohnheim, in dem er viele Jahre seines Lebens verbrachte. Ausgestaltung findet der Begriff als „Wirzianum“ auf einer Zeichnung, die ein an ein gotisches Kloster gemahnendes Gebäude wiedergibt. Offenkundig ist damit das Heim gemeint, auch wenn in der Ikonographie Wirz‘ Interesse für Kirchenbauten dominiert. Zugleich aber treten auf der Zeichnung seine Ängste deutlich hervor, entbehrt das Gebäude doch nicht eines „Tötungsraumes“, der nicht nur durch einen blutroten Fleck gekennzeichnet ist, sondern eigens handschriftlich ausgewiesen. Solche ihn beständig beschäftigenden Furcht findet auf vielfältige Weise Ausdruck in seinem Schaffen. Diese offenkundig in den frühesten Erlebnissen begründete Furcht prägt wesentlich das Bild- und Ausdrucksprogramm von Wirz. Gleichzeitig zeugen die von Wirz aufgerufenen Bezüge von einem breiten Interesse. Und so verwundert es nicht, dass an anderer Stelle der Begriff „Wirziana“ mit einer Pflanze in Verbindung gebracht wird, auch diese eingebettet in die dem Künstler eigene Symbolik, die auf seine Sexualität ebenso anspielt wie auf seine Ängste.
In dem von Wirz als Wirzianum bezeichneten Heim liegen die Anfänge des heute noch erhaltenen Werkes, wenngleich das künstlerische Arbeiten Peter Wirz‘ weiter zurückreicht. Lediglich haben sich die frühen Arbeiten aus verschiedenen Gründen nicht erhalten – maßgeblich jedoch, weil die Fähigkeiten Wirz‘ nicht erkannt und der Wert der Arbeiten unterschätzt wurde. Zugleich wird gerade am Beispiel von Peter Wirz deutlich, wie sehr äußere Faktoren die Rezeption eines Werkes begünstigen oder abwerten. Ästhetische Kriterien bilden nur eine Kategorie bei der Beurteilung und geraten dort ins Wanken, wo die Übergänge zwischen den als „Art brut“ bezeichneten Werken und solchen, die ebenso fantastisch sind, ebenso jenseits jeglicher kultureller und stilistischer Vorschriften liegen, aber von kunstmarkgängigen Schöpfern mit einer Signatur versehen wurden, fließend sind. Adolf Wölfli hatte das Glück, mit Walter Morgenthaler einen Betreuer zu haben, der nicht nur dessen Schaffen akzeptierte, sondern förderte, indem er Wölfli mit entsprechenden Materialien versorgte. Wirz hingegen, dessen Eltern durchaus vermögend waren, wurde durch pietistische Erziehung und die der Brudersozietät der Herrnhuter angehörenden Tanten, bei denen er zeitweise lebte, zur Sparsamkeit gedrängt. Die Vormundschaft, unter die er schon früh gestellt wurde, bewirkt ein Übriges. Zeit seines Lebens verwendete Wirz praktisch keine hochwertigen, eigens für Zeichnen und künstlerischen Bedarf bestimmten Papiere, griff stattdessen auf schon Bedrucktes, Speisenkarten, Postkarten, Fahrkarten, Prospekte und ähnliches mehr zurück. Zum Zeichnen standen ihm durchweg nur Blei- und Buntstifte zur Verfügung. Umso bemerkenswerter ist die Ausdruckskraft seiner Zeichnungen, deren dichte Flächenfüllung, der die Intensität anzusehen ist, mit der der Künstler sich seinen Arbeiten zuwandte, und virtuoser Kombination von oft konträren Motiven erzeugte.
Bei all dem beschäftigte Wirz die Frage nach dem Wert seines eigenen Schaffens. Auch wenn durch seine verschiedenen Zimmerwirte und Betreuer ihm mangelnder Ordnungssinn nachgesagt wurde, entwickelte Wirz doch für sein Oeuvre ein eigenes Magazinierungssystem. Zeichnungen, Collage und Schnittbilder, auch die von ihm als „Fetzenbilder“ bezeichneten Werke wurden sorgfältig in Schachteln abgelegt. Sein Selbstverständnis als Künstler spiegelt ein längerer mit Monsieur le peintre betitelter Text. In ihm schildert er seine Idealvorstellung vom Umgang mit Künstlern. Am Beispiel des Landes A. beschreibt er, wie Maler gewürdigt werden und welche Möglichkeiten ihnen zugestanden werden, ihr Werk zu erläutern.
Das künstlerische Oeuvre, das Peter Wirz erstellte und für das er sich Zeit seines Lebens einen respektablen Auftritt gewünscht hatte, hat nun als Wirziana eine Publikationsform gefunden. Aus den rund 700 noch vorhandenen Arbeiten hat Andres Müry ein Konvolut von etwa 150 Werken ausgewählt und zu einem Buch zusammengestellt. Im ersten Teil gibt Müry einen fundierten Einblick in die Biographie des Künstlers und dessen Lebenswelt. Dem Leser erschließt sich so eindrücklich der Kosmos Wirziana. Da die Zeichnungen in Originalgröße, zudem in hervorragender Qualität reproduziert wurden, sind auf ihnen inhaltliche wie auch technische Feinheiten bestens zu erkennen.
Andres Müry
Wirziana
Die andere Welt des Peter Wirz
ISBN 978-3-907112-16-8
Euro 45