Gut zwei Wochen vor Eröffnung der documenta fifteen liegt mit Abfackeln eine neue Graphic Novel von Nino Bulling vor. Das Buch erscheint zwar zu Bullings Ausstellung an der documenta fifteen, bedarf aber mit Sicherheit nicht des Rahmens der Großausstellung in Kassel. Denn das Thema von Bulling ist hochaktuell, erfasst seine Darstellung doch eine von Trans*Identität bestimmte Paarbeziehung, die sich mit weiteren Paarkonstellationen überkreuzen. In Bullings Buch steht das Beziehungsgefüge also im Umfeld von Persönlichkeitsfragen, wie sie in LGBTQ (jüngst LGBTQ A+) Gemeinschaften diskutiert werden. Die Folgen von Buchstaben bezeichnet die verschiedenen Möglichkeiten, die eigene Persönlichkeit jenseits einer Beschränkung auf Heterosexualität zu bestimmen.
Die Thematik ist jedoch nur ein Aspekt, weit gewichtiger ist die Umsetzung, also die Art und Weise, wie Bulling die hier relevanten Fragen zur Darstellung bringt. Es sind zunächst einmal einfache Strichzeichnungen, die ihre Kraft durch ebenso markant wie gezielt eingesetzte schwarze Flächen erhalten. Zugleich dienen die ausgeprägten Kontraste dazu, Personen wie auch Stimmungen zu charakterisieren. Die reduzierten und dennoch hoch komplexen Zeichnungen verleihen der gesamten Graphic Novel trotz der in ihr verhandelten Persönlichkeitssuche eine Leichtigkeit. Dazu trägt mit Sicherheit die Höhung durch Rot bei, die vornehmlich der Schrift wie auch der Rahmung der Panels vorbehalten bleibt.
Die roten rahmenden Linien dienen gleichzeitig einer Hervorhebung, die insbesondere dann zum Einsatz kommt, wenn aus einem großen Bildfeld ein Ausschnitt gleichsam herausgezoomt werden soll, wie etwa die Fokussierung einer einzelnen Person in einer großen Menge von Partyteilnehmern. Durch die einander überlagernden Bildfelder tritt gleichsam Bewegung ins Bild – allerdings eine, die hauptsächlich vom Auge ausgeht, das einen Gegenstand fixiert und ihn genauer ins Blickfeld nimmt.
Die Farbe Rot tritt allerdings noch ein weiteres Mal hervor, nämlich dort, wo es um Feuer und Flammen geht und somit im weiteren Sinne ein Bezug zum Titel besteht: einem von der Hitze ausgelösten Brand in Australien, eine Kerzenflamme und den in der Ferne ausscheinenden Flammen einer Raffinerie. In allen Fällen wird etwas abgefackelt. Das Abfackeln steht hier als Metapher für Zerstörung, die in den meisten Fällen vom Menschen verursacht ist. Der Titel „abfackeln“ fokussiert aber auch eine Neudeterminierung der Persönlichkeit. Sie findet Ausdruck in der Redewendung vom Abfackeln. Gemeint ist ein Abschließen mit dem Vergangenen, gleichsam einem Abfackeln, das einen Neuanfang freisetzt, bei dem die Persönlichkeit wie Phönix aus der Asche aufzusteigen kann. Von hier ausgehend wird das Feuer zu einer Art Leitmotiv, das an verschiedenen Stellen immer wieder in Erscheinung tritt. Und spätestens hier tritt mit aller Deutlichkeit hervor, dass es in abfackeln um mehr geht als Liebe, Partnerschaft, trans*Identität und eine Suche nach sich selbst geht. Denn so sehr auch das unmittelbare individuelle Umfeld als Rückhalt dienen kann, tangiert die Psyche der Zusammenbruch von Lebensräumen durch Überindustrialisierung, die in letzter Konsequenz in ökologischen Katastrophen enden.
Schließlich tritt die Farbe Rot noch ein weiteres Mal in Erscheinung, nämlich im Faden der Bindung. Die nur stellenweise sichtbar werdenden roten Linien außerhalb der Zeichnungen verlinken gleichsam zwischen dem Buchblock und der Erzählung. Indem die Naht Zusammenhalt und buchstäblich Bindung vermittelt, liefert sie ein Gegenstück zur Erzählung, in der sich vieles aufzulösen droht. So marginal die Farbe der Fadenbindung auch erscheinen mag, ist sie sicher nicht zufällig gewählt. Immerhin bleibt die Bindung durch den offenen Buchrücken sichtbar. Offen bliebt schließlich auch der Ausgang der Graphic Novel, was sich nicht zuletzt darin bekundet, dass bei der Unterteilung der Abfolge in vier den Jahreszeiten folgende Kapitel der Winter buchstäblich unausgeführt bleibt. Eine weitere besondere Note verleiht die buchbinderische Ausführung der Graphic Novel durch zwei einander ablösende Papiersorten, nämlich einem gestrichenen und einem offenen Buchdruckpapier. Der Unterschied teilt sich kaum merklich und hauptsächlich haptisch mit, doch rufen sie die Frage nach dem Umgang mit Ressourcen in Erinnerung. Sind die unterschiedlichen Papiersorten tatsächlich nur eine Caprice der buchbinderischen Verarbeitung oder nicht vielmehr der aktuellen Knappheit an Papieren geschuldet.
Nino Bulling, 1986 in Berlin geboren, studierte Illustration an der Hochschule für Kunst und Design in Halle an der Saale und trat mit Im Land Der Frühaufsteher, eine Reportage über die Kämpfe geflüchteter Menschen in Sachsen-Anhalt 2012 mit einer ersten Graphic Novel hervor. 2017 folgte mit Lichtpause, was die Eindrücke eines längeren Aufenthalten in Algier erfasst, eine weitere Graphic Novel. 2019 erschien Bruchlinien. Drei Episoden Zum NSU – in Zusammenarbeit mit Anne König. Kürzere Arbeiten finden sich in Anthologien und Magazinen, unter anderem in Samandal, Kus und Strapazin. Ninos Arbeiten wurden in zahlreichen Ausstellungen und Festivals gezeigt, u.a. im Brandenburgischen Landesmuseum für Moderne Kunst (2021), im HMKV Dortmund (2019) und auf dem 8. Festival für Fotografie f/stop in Leipzig (2018)
Nino Bulling
abfackeln (dt. u. engl.)
156 Seiten, zweifarbig
Verlag bbb Edition Moderne AG