Viola Hildebrand Schat
2020 ist ein besonderes Jahr, stellt es doch für die Meisten Gewohnheiten und als selbstverständlich erachtete Freiheiten in Frage. Gleichzeitig rückt die Bedeutung von Büchern verstärkt ins Bewusstsein – zumal von solchen, die quasi den Museumsbesuch ersetzen, buchstäblich die Lücke überbrücken.
Vor diesem Hintergrund sind die Bücher zu Brücken von Rosa Lachenmeier in mehrfacher Sicht aktuell: The Sound of New York Bridges wurde während der Kunsttage in Basel im Schaulager erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Das in feste graue Pappe gebundene Buch erfasst die Brücken über den East River, den Harlem River und den Hudson, die die Stadtteile New Yorks miteinander verbinden. Kombiniert sind die silbrig glänzenden Aufnahmen der Brückenansichten mit künstlerisch überformten Schallplatten. In rhythmischem Wechsel, quasi die Bewegungen der Stadt aufgreifend lösen Fotografie und Malerei einander ab. Über diesen Motivwechsel tritt New York als ein in mehrfacher Hinsicht kulturträchtiger Ort in Erscheinung. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt New York als Dreh- und Angelpunkt der zeitgenössischen Kultur. In New York arbeiteten nicht nur jene Künstler, die maßgeblich die Entwicklungen der europäischen Kunst prägten, auch Architekten aus der ganzen Welt verwirklichen in dieser Stadt ihre Entwürfe. Und nicht zuletzt manifestieren sich hier auch in den Brückenkonstruktionen zentrale Ingenieurswerke. Und das schon seit langem. Die wohl älteste Brückenkonstruktion stammt aus dem Jahre 1883 und stammt von Johann R. Roebling. Die Eisenstahlkonstruktion der Brooklyn Bridge bildet den Auftakt von Lachenmeiers Buch. In einer der Fahrtrichtung um Manhattan folgenden Ordnung ihrer Fertigstellung folgen weitere Brücken, insgesamt 20 Überbrückungen, davon einige in verschiedenen Ansichten aufgenommen. Mit auffallender Häufigkeit finden die von Othmar H. Ammann entworfenen Brücken Darstellung im Buch. Mit dem 1879 im schweizerischen Feuerthalen geborenen Ingenieur identifiziert sich die Künstlerin insofern, als auch zu ihren Vorfahren mit Ulrich Ruffiner ein bedeutender Brückenbaumeister zählt. Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts baute Ruffiner eine Brücke über die Schlucht der Mattervispa und schuf so eine direkte Verbindung zwischen Stalden und dem Saastal. Mehr noch als in anderen Gebieten bedeuteten Brücken einen enormen Fortschritt, schlossen sie doch entlegene Täler in die Handelsverbindungen ein, sorgten für deren Anbindung an außerhalb sich vollziehende Entwicklungen.
In The Sound of New York Bridges vermittelt Rosa Lachenmeier gänzlich ohne Text ein Stück Kulturgeschichte. Auch wenn die Geschichte der Brücken im Mittelpunkt steht, klingen doch weitere Bezüge an – und das buchstäblich. Die den freikünstlerischen Arbeiten zugrunde gelegten Schallplatten erinnern an die bewegten Musikszenen, deren Musik sich von New York über die ganze Welt ausbreitete. Gleichzeitig bilden sie den Träger eines Malstils, der an den abstrakten Expressionismus erinnert, mit dem sich nach dem Krieg die USA als leitend in der Kunst positioniert haben. Die Malerei führt zudem tiefer in das Werk der Künstlerin hinein. So widersteht die reine Abstraktion immer wieder einer Anmutung an eine Motivik, die im konkreten Fall von The Sound of New York Bridges das Konstruktive der Ingenieurwerke in Erinnerung ruft. Die Schallplattenübermalungen wirken wie der abstrakte Gegenpart zu den Fotografien der Brücken. Die in der Motivik anklingenden Korrespondenzen überträgt die Künstlerin auf die Konstruktion ihres Buches. Wie die Bauweise vieler Brücken sich über die Eisenstahlträger offenbart, weil sie unverkleidet offenliegt, gibt auch der Buchkörper seine Konstruktion zu erkennen. Lachenmeier hat sich bewusst für eine offene Bindung entschieden. Bei dieser Art der Bindung handelt es sich um ein relativ junges Verfahren, dass erst neue Materialien möglich machten. Anstatt den Buchrücken mit dem Material zu kaschieren, mit dem auch der Einband überzogen wird, bleiben die die Seiten zusammenhaltenden Fäden sichtbar. Am Rücken des Buches bilden sie ein eigenes Muster, der zum Einsatz kommende rote Faden führt unmittelbar ins Innere, wo er im Bund als dezente Linie wieder in Erscheinung tritt. Dem Betrachter und Buchnutzer offenbart der rote Faden ein Stücke Konzeption des Buches und dient ihm zugleich als Leitsystem. Denn das Rot findet sich an verschiedener Stelle im Buch aufgegriffen, etwa in der Schrift des Titels auf dem Einband, aber auch bei den Vorsätzen, die sich wie ein Rahmen um den Inhalt schließen. Und rot sind schließlich auch die Zahlen, die die Künstlerin als Indices für die Brücken auf einer Karte von Manhattan eingezeichnet und in ihr Buch aufgenommen hat.
The Sound of New York Bridges ist nicht Lachenmeiers ersten Brückenbuch. Vier Jahre zuvor, 2016 stellt sie in Frankfurt und Offenbach mit Bridges ein Buch zu den Mainbrücken der beiden benachbarten Mainstädte vor. In diesem Buch nun sind die Brückenansichten zu zwei aufeinander zulaufende Leporellos in Fotomontagen vereint. Die Brücken auf den Bildstreifen führen in einer Art Zickzackführung über den Main und wieder zurück, den Betrachter im ständigen Wechsel mit den unterschiedlichen Ansichten konfrontierend. Von den Bücken aus erscheint auch die Stadt in immer neuen Ansichten. Die altvertraute Silhouette verschwindet bisweilen nahezu gänzlich hinter den Brückenaufbauten und -fundamenten. Diese Blickführung lässt deutlich werden, dass nicht die Stadt im Vordergrund steht, sondern die Brücken als Verbindungen schaffende Architekturen. Als von Menschen für Menschen geschaffene Verbindungen bildet sie auch in dem Buch Brücken/Bridges einen Leitfaden. Im Fall von Brücken/Bridges reagiert die Künstlerin auf das konstruktive Elemente mit einer Plexiglashülle, die den Buchkörper aufnimmt. Das Plexiglas liefert den Zusammenhalt, der sich in den beiden aus dem Buchblock ergießenden Leporellos zu verströmen droht. Die für das Buch bereitgestellte Verschalung liefert gleichsam das Flussbett für die von Brücken überspannte Wasserstraße.
Mehr zu den Brücken-Büchern von Rosa Lachenmeier im Klingspor Museum Offenbach am Main. Der Termin für eine Präsentationi in Anwesenheit der Künstlerin wird bekanntgegeben, sobald er feststeht.
Rosa Lachenmeier: The Sound of New York Bridges