The Space between us

Viola Hildebrand Schat

Der 1938 in Charkow geborene Boris Mikhailov erlangte 1997, als ihm für sein fotografisches Werk der mit der Verleihung des Albert Renger-Patzsch-Buchpreis verliehen wurde, in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Bekannt wurde er als Vertreter der inoffiziellen Szene der Sowjetunion. Ausgebildet war er als Ingenieur und als Ingenieur verdiente er seinen Lebensunterhalt. Das Fotografieren brachte er sich selbst bei – aus Interesse am Medium, vielleicht auch getrieben von der Versuchung, dem vorgeschriebenen Rhythmus des sowjetischen Alltags den eigenen Blickwinkel in kreativer Umsetzbarkeit entgegenzustellen.

Für einen solchen Ausbruch aus den sowjetischen Regularien spricht immerhin ein Eintrag auf einer als „Tagebuch“ bezeichneten Serie von Blättern, auf die Mikhailov Fotografien aufgezogen und handschriftlich dokumentiert hat. Wie beiläufig spricht er hier von einer Gruppe junger Leute, die sich in Anlehnung an die von Kandinsky um 1912 in München ins Leben gerufene Gruppe „Blaue Reiter“ nennt. Gemeinsam ist den jungen Menschen, dass sie sich für die westliche Kultur interessieren, zu denen ihnen offiziell der Zugang untersagt ist, so der Musik der Beatles, Rock and Roll und die Freiheiten des Westens. Diese Vorlieben, wenn auch nicht immer offen zur Schau getragen, so doch keineswegs verheimlicht, machten die jungen Leute dem sowjetischen Geheimdienst verdächtig und entsprechend wurden sie observiert. Das offizielle wie das inoffizielle Kontrollsystem funktionierte und so war es sicher kein Zufall, dass man in Mikhailovs Umfeld Fotografien entdeckte, die des Künstlerehefrau unbekleidet zeigten. Die Aktfotografien konnten nach den Vorgaben eines Paragraphen, der Pornographie verbat, abgeurteilt werden. Mikhailov verlor seine Arbeit als Ingenieur, widmete sich aber weiterhin der Fotografie.

Die von ihm aufgenommenen Sujets – das belegen die diversen in der Ausstellung gezeigten Serie, sind vollkommen harmlos, zeigen sie doch nichts anderes als vollkommen alltägliche Motive – so banal, dass man ihnen im Alltag wohl kaum Bedeutung zumessen würden. Erfasst sind die nüchternen Plattenbauten, die neben den älteren kleineren Häusern in praktisch allen sowjetischen Städten errichtet wurde. Ebenso sind Straßen und Plätze zu sehen, die die so gewöhnlich und gleichförmig sind, dass sie sich in jeder beliebigen sowjetischen Stadt befinden könnten. Das gleiche gilt für die Straßenbahnen und die Personen, die auf Straßen und Plätzen zu sehen sind, meist nicht einmal als Individuen hervorgehoben, sondern lediglich als Teil einer Gruppe, in der sie unerkannt untergehen.

Nur wenige Aufnahmen Mikhialovs brechen aus dieser Gleichförmigkeit aus. Das sind die Selbstporträts, zumal jene, auf denen er frei von jeglicher Kleidung, diverse Posen erprobt, das sind aber auch jene, in denen er die sommerlichen Vergnügungen auf der Krim festhält, denen er sich mit Freunden hingegeben hat. Als „Crimean Snobism“ bergen sie möglicherweise eine Kritik an einer Form der Vergnügungen, wie man nach dem Ende der Sowjetunion bei Neureichen beobachten kann. Zu bedenken ist allerdings, dass der englische Titel sicher eine nachträgliche Zutat ist. (Warum hätte Mikhailov, als er in Charkow lebte, seine Fotografien mit englischen Titeln versehen sollen. Zu diesem Zeitpunkt wird er wohl kaum an eine künstlerische Karriere in westlichen Galerien gedacht haben). Erfasst sind jedenfalls die typischen Szenen eines Urlaubs: Baden, Sonnenbaden, Waldspaziergang – die Freude an der Befreiung vom Trott des Alltags und am sonnigen Klima, das den Aufenthalt im Freien ermöglicht. Bestenfalls klingen Reminiszenzen an die Motive der impressionistischen Malerei an, was insofern nicht verwunderlich ist, als die Vertreter des Impressionismus sich mit Leidenschaft den Freizeitmotiven zuwandten.

Mikhailovs Bilder haben also alles in allem nichts Ungewöhnliches an sich. Bestenfalls wäre ihnen vorzuwerfen, dass sie nicht die Richtlinien des einst von der Stalinistischen Partei beschlossenen Sozialistischen Realismus verfolgen. Mit einer vorgeblich „realistischen“ Darstellung sollten Schriftsteller und Künstler die Errungenschaften des Sozialismus feiern. In seiner Projektion, die allerdings Utopie blieb, sah das neue System für alle ein besseres, schöneres und vor allem sorgenfreies Leben vor. Entsprechend hatten die Darstellungen in Literatur und Kunst auszufallen, indem sie die anvisierte Utopie in Szene setzten. Mikhailovs Bilder hingegen zeigen den Alltag wie er ist. Das alleine wäre möglicherweise noch kein Grund gewesen, den Künstler zu diffamieren. Wirklich suspekt wurden sie erst durch die handschriftlichen Kommentare, die der Künstler auf vielen Blättern anfügte – auch sie durchweg harmlose Beschreibungen dessen, was das Bild ohnehin zeigte, gelegentlich ein als Titel zu verstehender Begriff. Doch gerade das vordergründig so Unbedenkliche ließ eine chiffrierte Kritik am System vermuten, zumindest löste es ausreichend Skepsis aus, um den Künstler sein nonkonformes Arbeiten vorzuwerfen.

Biografische Einzelheiten ebenso wie Informationen über die sozialpolitischen Hintergründe lässt die Ausstellung in Baden-Baden außen vor, um stattdessen einen kommentarfreien, also quasi neutralen Blick auf das Oeuvre Mikhailovs zu eröffnen. Eine solche Darbietung setzt aber doch einen soweit vorinformierten Betrachter voraus, als klar sein muss, dass nicht Perfektion im Vordergrund stehen, sondern eben jener experimentelle Ansatz, wie er für das Schaffen der meisten nonkonformen Künstler der 1970er und 1980er Jahre der Sowjetunion bezeichnend ist.

So wenig der Betrachter über die Künstlerpersönlichkeit erfährt, so viel mehr lernt er über Präsentation. Die einzelnen Werkgruppen präsentieren sich auf höchst unterschiedliche Weise. Neben den kleinformatigen, als Serien zusammengefassten Originalabzügen, die aller Wahrscheinlichkeit nach vom Künstler selbst erstellt wurden, sind etliche Fotografien zu gewaltigen C-Prints aufgebläht, die zwar imposant wirken, aber in einem merkwürdigen Kontrast zu den einfachen Mitteln stehen, die das Werk ursächlich charakterisierten. Dass diese C-Prints zudem unter eine Glasscheibe gelegt sind, verschärft die Frage nach der eigentümlichen Ästhetik. Um was geht es bei diesen Bildern nun wirklich? Soll die nonkonforme Geste in den Vordergrund treten oder soll ein gefälliges Bild vorgestellt werden, dass durch Format und technische Aufbereitung sich dem Dekorativen zuneigt? Der Verdacht drängt sich auf, als nutze die eine oder andere Galerie die Ausstellung als Plattform verkäuferischer Interessen. Doch werden solche Präsentationsformen wirklich der künstlerischen Intention gerecht, auch dann, wenn man voraussetzt, dass Mikhailov seit Jahrzehnten im Westen arbeitet und die sowjetische Ästhetik längst hinter sich gelassen hat. Doch selbst die von ihm zu einer filmischen Darbietung montierten Motive neueren Datums entbehren nicht einer Sperrigkeit, mit der sie an das Frühwerk anknüpfen. Ob nun einer solchen die Winkel jenseits der vorzeigbaren Gesellschaft aufspürende Fotografie die Präsentation im Großformat und elaborierter technischer Umsetzung gerecht wird, mag dahingestellt sein. Die Ausstellung in Baden-Baden ist in jedem Fall ein Gewinn, gibt sie doch einen umfassenden Einblick in das Oeuvre eines durchaus nicht leicht rezipierbaren Künstlers.

Ausstellung in der Kunsthalle Baden-Baden, 16. November 2019 bis 9. Februar 2020