Vom Sammeln und Erinnern als künstlerisches Konzept
Sigrid Sigurdsson, gleichwohl von der Kunstgeschichte immer noch viel zu wenig beachtet, ist keine Unbekannte. Seit nun zwanzig Jahren befindet sich im Historischen Museum Frankfurt eine ihre raumgreifenden Installationen, wie sie unter der Bezeichnung „offenes Archiv“ international Aufmerksamkeit erregt haben. Braunschweig, Danzig oder Sutthof in Polen sind nur einige Orte, an denen die Künstlerin offene Archive eingerichtet hat. Es sind Orte, an denen Erinnerungen gesammelt werden – und zwar durchaus handgreiflich. Die hier zusammengetragenen Erinnerungen manifestieren sich in Gegenständen des Alltags, des persönlichen Gebrauchs, in Fotografien, Bilder und Aufzeichnungen aller Art.
Als eines der wohl umfangreichsten offenen Archive ist das im Osthaus Museum in Hagen zu nennen – von der Künstlerin selbst als „Kartographie einer Reise“ bezeichnet. Im Unterschied zu den anderen, bei denen Sigurdsson auf Partizipation setzt und die Inhalte von Vielen zusammengetragen werden, kulminiert das offene Archiv in Hagen im Lebenswerk der Künstlerin. Das Konzept des offenen Archivs stülpt sich hier über eine Vielzahl von Sammlungsteilen, aus denen die künstlerische Vorgehensweise Sigurdssons ablesbar wird.
Die Visualisierung von Abstrakt wie Zeit, Erinnerung, Gedächtnis, Erzählen und Tradieren bildet eine Art roten Faden, der die unterschiedlichen Teile nicht nur zusammenhält, sondern auch die vielfältigen Beziehungen aufzeigt.
Das Beziehungsgefüge zu entwirren hat sich die jüngst im Modo Verlag erschienene Publikation Kartographie einer Reise zum Anliegen gemacht. Die Publikation fungiert als Leitfaden und Handbuch zugleich. Sie gibt Auskunft über das Konzept des offenen Archivs und erhellt, wie die räumlich gestreuten Archive zwar aufeinander bezogen sind, wie aber das in Hagen beheimatete eine Art Metaarchiv bildet.
Zur Sprache kommt unter anderem die narrative Qualität der im Archiv versammelten Gegenstände. Ausgehend vom konkreten Objekt entfaltet sich ein erweiterter Erzählbegriff, der an handschriftlich von der Künstlerin aufgezeichneten Geschichten und Zeichnungen anknüpfend sich in den Raum ausweitete und den Betrachter vereinnahmt. Es ist, als brächten sich all die im offenen Archiv zusammengetragenen Erinnerungen in einem vielstimmigen Chor zu Gehör. Gleichwohl empfängt den Besucher und Betrachter ein Raum der Stille, in dem er selbst zum Forscher werden kann. Viele der von der Künstlerin bereitgestellten Sammlungen bieten einen offenen Zugriff, der Betrachter kann in Büchern blättern, kann in die Geschichten der Künstlerin eindringen und eigene Nachforschungen anstellen.
Der Zugang zum Archiv durch die Publikation beschränkt sich nicht allein auf Texte, vielmehr überführen dichte Bildstrecken die vor Ort gewonnenen Eindrücke unmittelbar in den Raum des Buches. Die Kartographie einer Reise offenbart sich darüber gleichsam als ein weiteres offenes Archiv, das im Gegensatz zu den räumlich fixierten den Leser an jeden beliebigen Ort begleitet, ihm jederzeit, unabhängig von Öffnungszeiten, Auskunft und Einblick gewährt. toLookAt
Kartographie einer Reise
Geschichtserfahrung im offenen Archiv
2020. Herausgegeben von Viola Hildebrand-Schat
Mit künstlereigenen Texten von Sigrid Sigurdsson
756 Seiten, 16,5 x 23,5 cm, deutsch, ca. 387 Abbildungen, Hardcover, Fadenheftung.
64,00 EUR
ISBN 978-3-86833-270-4
Link: http://modoverlag.de