Viola Hildebrand-Schat
Nachdem mit Mauerfall und offiziellem Ende des Kalten Krieges in westlichen Ländern im Zuge einer „Gorbi-Euphorie“ an verschiedenen Orten Ausstellungen zur russischen Kunst stattgefunden haben, ist es nun ruhig um die zeitgenössische russische Kunstszene geworden. Die Aufmerksamkeit, die von westlicher Seite einer lange übersehenen Entwicklung zu Teil wurde, ist abgeebbt, bevor es überhaupt zu tieferen Einblicken kommen konnte. Auch wenn Ausstellungen wie Moskau-Berlin/Berlin Moskau im Martin Gropius Bau in Berlin oder die zur nonkonformen Kunst in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt erste Einblick lieferten, ist damit noch lange nicht der Vielfalt der nachstalinistischen Kunst entsprochen.
Lediglich wird der Blick freigelegt auf eine Handvoll von Künstlern, die zum großen Teil gar nicht mehr in Russland leben. Solche Begrenzung birgt notwendig die Gefahr, die zeitgenössische russische Kunst nicht nur in einem allzu kleinen Ausschnitt, sondern auch viel zu oberflächlich zu erfassen.
Umso verdienstvoller ist es, dass das Kunstmuseum Liechtenstein in einer groß angelegten Retrospektive 2018/19 einen umfassenden Einblick in das Schaffen von Yuri Albert liefert. Nicht minder wertvoll ist es, dass die Ausstellung von einer Publikation begleitet wird, die mit ihrer Zusammenstellung von Texten und Bildern die Ausstellung im Kunstmuseum und das Werk Alberts nachhaltig würdigt. Für den deutschsprachigen Raum ist sie die einzige umfassende Monographie zum Künstler. Wer künftig Informationen zu Werk und Künstler sucht, wer einen vertieften Einblick in das Denken eines Vertreters der nonkonformen Szene gewinnen möchte, wird mit dem Buch Yuri Albert – Elitär-demokratisch fündig.
Yuri Alberts Schaffen ist ebenso einzigartig wie paradigmatisch für eine Entwicklung innerhalb der sowjetisch-russischen Kunst, die als nonkonform oder auch inoffiziell bezeichnet wird. Nonkonform bezeichnet eine von der staatlichen Doktrin abweichende Form, nämlich alles, was nicht dem seit dem Schriftstellerkongress 1934 von Staatsseite offiziell vorgeschriebenen sozialistischen Realismus entspricht. Der sozialistische Realismus sollte in Literatur wie Kunst die Ideologie stützen und entsprechend die Bestrebungen von Fortschritt und Aufschwung der Wirtschaft untermauern und den Traum von einer besseren Zukunft für alle aufrechthalten. Doch abweichend von den allgemeinen Richtlinien etablierten sich Kunstformen, die mit Ungegenständlichkeit und Materialexperimenten die in der Avantgarde der ersten Jahrzehnte aufgebrachten Ausdrucksformen aufgriff und fortentwickelte oder die mit sozialkritischen Darstellungen das Leben im Lager und den Alltag in seiner ungeschönten Form erfasste.
Aus den unorthodoxen Richtungen entwickelte sich in den 1970er Jahren eine zunehmend kritischere Reflexionsform, die in Anlehnung an den Konzeptualismus der westlichen Länder ebenfalls als Konzeptualismus bezeichnet wurde, jedoch mit dem Zusatz „Moskauer“. Die für westliche wie östliche Ausprägung verwendete gemeinsame Begrifflichkeit „Konzeptualismus“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um zwei grundsätzlich unterschiedliche Entwicklungen handelt.
Die der Moskauer oder vielmehr russischen Ausprägung zugrundeliegenden Prinzipien sind für den westlichen Rezipienten nicht immer leicht zu verstehen, weil ihm das Wissen um die Kontexte, die unterschiedlichen sozialpolitischen Voraussetzungen zumeist fehlt. So ist die Aufspaltung einer Künstlerpersönlichkeit zwischen offiziell und inoffiziell, die Bedeutung von Mitgliedschaft im Künstlerverband und damit verknüpfte Möglichkeiten, künstlerisch überhaupt tätig zu werden, meist nicht nachvollziehbar. Vor allem sind die fließenden Übergänge von Toleriertem und Sanktioniertem sowie die gesamten Kontrollmechanismen, denen der freie künstlerische Ausdruck unterlag, nicht verständlich.
Und eben an diesem schmalen Grad von Möglichen und nicht Möglichem setzt Alberts Schaffen an. Das Katalog-Buch gibt hier insofern authentischen Einblick, als hier ausführlich der Künstler selbst zu Wort kommt. In einem Prolog schildert Albert die Anfänge seines künstlerischen Werdegangs. Unprätentiös und sachlich gibt er Einblick in seine Ausbildung, die Hilfestellungen und Freundschaften, die seine Entwicklung zum Künstler begleiteten. Der Künstler erzählt über das unter Künstlern zirkulierende Wissen über westliche Kunst und wie es rezipiert und verbreitet wurde. In diesem Zusammenhang vertieft er auch seine Auffassung von Kunst und Kunstbegriff, den er an der eigenen Person festmacht, indem er zwischen einer „wahrer“ und einer „zeitgenössischer“ Kunst unterscheidet und diese Unterscheidung gleichzeitig zum Anlass nimmt, die Prinzipien seines Kunstschaffens zu erläutern.
In diesem Zusammenhang ist auch das „Traumtagebuch“ zu erwähnen, das mit der im Katalog-Buch vorliegenden Form erstmals Veröffentlichung fand. Mit durchaus selbstkritischem Ansatz hinterfragt Albert die Inspiration künstlerischer Tätigkeit, geht unter anderem auf bewusste und unbewusste Einflüsse ein.
Einen weiteren Teil bildet dann eine Werkübersicht, die sich dankenswerter Weise nicht auf Abbildungen und Werkangeben beschränkt, sondern die ausführlichen Kommentare des Künstlers zu den einzelnen Werken mitliefert. In eine chronologische Abfolge gestellt, geben die Werke zugleich Einblick in die Entwicklung, die gleichermaßen von sichtbaren Veränderungen wie auch Konstanten geprägt ist. Gerade aus dieser Zusammenstellung erhellt sich auch, wie die sich verändernden Kontexte auch zu Veränderungen am Werkschaffen beitragen.
Einen zeitgenmäßen und im Zuge von Social Media höchst gerechtfertigten Teil bilden schließlich die Facebook-Einträge, mit denen der Künstler seit 2012 sein Werkschaffen kommuniziert.
Im Epilog liefern die beiden Kuratorinnen und Herausgeberinnen in Form eines Glossars Erläuterungen zu den zentralen Aspekten des Werkes Alberts. Dem Leser dient der nach Stichworten gegliederte Artikel als Orientierungs- und Verstehenshilfe im künstlerischen Werkkomplex.
Bliebe am Schluss noch zu erwähnen, dass auch die gestalterische und materielle Aufbereitung des Katalog-Buches dem Werk des Künstlers nicht nachsteht. Mit stark gefärbten Papieren werden Traumaufzeichnungen und Facebookeinträge als eigenständige Komplexe, gleichsam als Bücher im Buch, herausgehoben. Dem Abbildungsteil ist ein matt gestrichenes, nicht glänzendes und damit den Abbildungen umso besser entsprechendes Papier gewidmet, das mit seinem elfenbeinfarbenen Ton dem Leseteil mit den Texten angeglichen ist. Lediglich finden sich die Texte auf einem leicht rauen Buchdruckpapier wieder. Gerade die unterschiedlichen Papierqualitäten belegen aber, dass auch die Rezeption sorgfältig bedacht und den verschiedenen Darstellungsformen optimal entsprochen wurde.