Sofern überhaupt noch über Religion, religiöse und kultische Bräuche nachgedacht wird, sind sie durchweg patriarchal ausgerichtet, also auf eine als männlich vorgestellte Gottheit hin. Der patriarchale Gott beherrscht die großen Religionen wie das Judentum, das Christentum und den Islam. Dem gegen über tritt schnell in Vergessenheit, dass Religion, Glauben und männliche Gottheit keine notwendige Einheit bilden, dass es vielmehr auch Religionen gab, denen eine Göttin vorstand. Ebenso ist wenig oder gar nicht bewusst, dass dem männlichen Gott immer ein weiblicher Anteil eigen ist. Auf diesen Aspekt unter anderem führte die Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt hin, deren Inhalte dauerhaft in einem ebenso umfangreichen wie eindrücklichen Katalog fixiert sind.
Die Vorstellungen von weiblichen Gottheiten haben über die Jahrhunderte hin in Bildwerken und Bräuchen Ausdruck erhalten, auch wenn sie in ihrer Bedeutung zu bestimmten Zeiten immer wieder marginalisiert oder gar verdrängt wurden. Dem Verdrängen und Vergessen weiblicher Anteile von Gottheiten oder eines weiblichen Gottes wirken künstlerische Positionen der jüngsten Kunstgeschichte entgegen. Ihnen ist ein Teil des Kataloges gewidmet, jedoch durchweg in einen kulturgeschichtlichen Rahmen gestellt, der die Hintergründe von Umdenken und Neudeuten erhellt . Zu Sprache kommen die verschiedenen Formen der Auseinandersetzung mit weiblichen Gottheiten, beginnend mit Fetischfiguren und Fruchtbarkeitssymbolen antiken Ursprungs bis hin zu Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler. Neben Gemälden, Videoinstallation und Fotografie sind Handschriften, Textilien und Gegenstände aus dem kultischen Gebrauch einbezogen.
Das Nebeneinander der verschiedenen Artefakte gibt Traditionslinien zu erkennen und zeigt, wie tief verwurzelte Auffassung transzendenter Inhalte sind und wie sie bis in die Gegenwart hinein ihre Gültigkeit behauptet haben. Auffallend ist, wie sehr die Vertreterinnen der Kunst bereits in den 1970er Jahren ihre Positionen formiert haben, dabei aber kaum unter dem Blickwinkel des Religiösen wahrgenommen wurden. Die unter dem Titel „Die weibliche Seite Gottes“ zusammengestellten Arbeiten geben nun Einblick in die Reflexion des Mythisch-Religiösen – und zwar nicht nur aus dem jüdischen und christlichen Kontext, sondern ebenso weisen sie auf die Durchdringung des Gedankengutes aus den unterschiedlichen Kulturkreisen hin. So zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Inhalten. Gerade anhand der Bildsprache werden die Überschneidungen in den Vorstellungswelten augenfällig. Beispielsweise stellt sich neben der im christlichen Kontext als Madonna, Mutter Gottes oder Maria verehrte Mutter mit Kind als Äquivalent bereits die den Isis-Kult im alten Ägypten als Göttin der Geburt wirkende Isis mit Horus-Kind. Durch die griechisch-römische Kultur übernommen, kann die Isis als unmittelbares Vorbild für die Darstellung der Gottesmutter betrachtet werden. Eine an die Mutter Gottes gemahnende Darstellung findet sich weiterhin in einer persischen Miniatur.
Auch nach Ende der Ausstellung bleiben die hierfür erarbeiteten Inhalte und das fundierte Wissen um Bräuche, Vorstellungs- und Bildwelten erhalten und orts- und zeitunabhängig über den Katalog für jedermann greifbar. Der Blick auf die weibliche Seite Gottes gliedert sich in sechs große Themenfelder, beginnen mit den Göttinnen im Alten Israel, die mit einer der ältesten Religionen verbunden sind. Ihnen folgen im nächsten Abschnitt mit Frau Weisheit und Gottes Gegenwart zeitgenössische künstlerische Positionen. Ebenfalls von Seiten der zeitgenössischen Kunst aus wird der Blick auf die Bedrohung der Frau gelenkt und dabei deutlich gemacht, wie Körperfeindlichkeit und Weiblichkeit aus orthodoxen Sichten ausgegrenzt werden. Im Abschnitt Glaubensmütter wird mit der Jungfrau Maria die Gottesgebärerin als eine in der christlichen Religion zentrale Figur ins Zentrum gestellt, um im anschließenden Abschnitt Selbstermächtigung äquivalente Positionen im jüdischen Glaubenskontext aufzuzeigen. Der abschließende Abschnitt erfasst schließlich die Mythischen Verbindungen von Kabbala und Shekhina. Sie zeigen sich primär in Handschriften und Druckerzeugnisse, in denen sich die vielfältigen Verknüpfungen und Rezeptionsweisen spiegeln, aber auch die zeitgenössische Kunst greift den Zusammenschluss auf. Beispielsweise verfolgt R. B. Kitaj in einen Arbeiten von 2003 und 2004 die Suche des Kabbalisten nach der Anwesenheit Gottes in der Welt. Sie führt den Künstler auf die Evokation seiner verstorbenen Geliebten, um darüber zu einer persönlichen Interpretation der Schechina in seinem Werk zu finden. toLookAt
Die weibliche Seite Gottes. Kunst und Ritual
Hg. von Eva S. Atlan, Michaela Feurstein-Prasser, Felicitas Heimann-Jelinek, Mirjam Wenzel
Bielefeld 2020