Die Diskussionen um die documenta scheinen sich nicht beruhigen zu wollen. Nach wie vor fokussieren sie antisemitische Positionen, ohne jedoch dabei sonderlich in die Tiefe zu gehen, verschiedenen Sichtweisen einander gegenüberzustellen und dem Blickwinkel der Kuratoren Raum zu geben. Sicher habe auch die Kuratoren der documenta wenig dazu beigetragen, ihr Auffassung zu erhellen und den Gebrauch einer Symbolik, die die Diskussionen ausgelöst hat, ausreichend zu erläutern. Absehbar wird es in dieser Diskussion keine abschließende Klärung geben und wohl auch kein Ausloten unterschiedlicher Sichtweisen. Schade ist nur, dass den vielen wenig fruchtbar geführten Diskussionen die auf der documenta ausgestellten Werke zum Opfer zu fallen drohen. Kaum wird über sie gesprochen, über sie geschrieben. Mögliche Interessenten der documenta fragen sich inzwischen, ob sich der Besuch der Weltkunstausstellung nun in diesem Jahr tatsächlich lohne oder ob man sich die Reise nach Kassel ersparen könne.
Fakt ist, das es viel zu sehen gibt, dass aber, um die einzelnen Positionen würdigen zu können, auch ausreichend Zeit erforderlich ist. Allein der Film Bibi Seshanbe von Saodat Ismailova, der im Souterrain des Fridericianums neben weiteren Arbeiten der usbekischen Künstlerin zu sehen ist, hat eine Laufzeit von knapp einer Stunde. Wer nur mal in den Film hineinschauen will, sich einigen Bildsequenzen hingibt, wird zwar einen Eindruck von der Ästhetik gewinnen, nicht aber die verschiedenen hier unterlegten und sich einander durchkreuzenden Geschichten verstehen, die einen wesentlicher Teil des Werkes ausmachen. Die Künstlerin selbst zieht bei der den Film dominierenden Geschichte eine Parallele zu dem von den Gebrüder Grimm aufgezeichneten Märchen Aschenputtel, das in anderen Kulturen als Cinderella bekannt ist. Signifikant wird der Bezug an einer Festepisode, die die Protagonistin des Filmes unter den Gästen beim Tanz zeigt. Die anschließende Szene, bei der einige junge Frauen die Sandalette probieren, die die Protagonistin noch während des Tanzes trug, bleibt hingegen mehr oder weniger bezugslos zum übrigen Inhalt stehen. Die in langen, umso eindrücklicheren Einstellungen aufgezeigten Episoden nehmen lose Bezug auf eine im usbekischen Volksglauben gegenwärtige Vorstellung von Geistwesen, sogenannten Chilltan. Chilltan sind weder gut noch böse, sind nicht gegenwärtig und nicht abwesend. Sie sind schlichtweg nicht greif- noch darstellbar. Die Künstlerin nähert sich ihnen über „Davra“, dem Inbegriff von Perfektion, wie er sich beispielsweise in einem runden Gegenstand manifestiert, daneben aber viele andere Ausdrucksformen aufweisen kann. Für die Künstlerin bezeichnet Davra auch den Versuch einer kreativen Wiederaneignung einer mit der Erde verhafteten Spiritualität. Dem Versuch stellt sich Ismailova nicht alleine, viel mehr lädt sie zur Teilnahme einen Kreis weiterer usbekischer Künstlerinnen ein, die sämtlich im Fridericianum mit ihren Arbeiten gegenwärtig sind – nicht jedoch alle gleichzeitig, sondern in zeitlicher Abfolge über den Verlauf der 100 Tage documenta einander ablösen. Für den Besucher heißt das, dass jedes Mal, wenn er das Unterschoss des Fridericianums aufsucht, er neuen Positionen begegnen wird. Dauerhaft bleiben lediglich drei zentrale Arbeiten von Ismailova selbst. Neben dem Film Bibi Seshanbe ist es eine poetische Erzählung, die gänzlich in der Projektion eines dreisprachigen Textes auf den Boden erfolgt sowie ein aus Seidenbahnen gefügtes bewegliches Bild. Dieses zeigt überlebensgroß ein Gesicht, durch das man als Besucher hindurchlaufen muss, um zu der auf den Boden projizierten Schrift vorzudringen. KASSEL