Kaum einen documenta hat im Vorfeld so viele Diskussionen ausgelöst wie die diesjährige. Mit Sicherheit sind dies auch Anzeichen, wie in einer globalisierten Welt mit Positionen des globalen Südens umzugehen ist. Angesprochen sind Befindlichkeiten, die weit über das tatsächlich Thematisierte hinausgehen, nämlich wie sich Postkolonialismus in einer globalen Welt positioniert und welche Widersprüchlichkeiten postkoloniale Positionen wiederum beinhalten. Nicht zuletzt dürfte auch die bloße Tatsache, dass Kollektive und nicht, wie gewohnt, einzelnen Künstler oder Kuratoren im Fokus der documenta stehen, das Diskussionsverhalten beeinflusst haben. Immerhin ist es fast schon ein Topos in der Kunstgeschichte, dass alles Neue eines Vorlaufes bedarf, bis es Akzeptanz findet. So stieß praktisch jede neue Kunstrichtung in der Vergangenheit zunächst auf Ablehnung, um häufig erst im Nachhinein Wertschätzung zu erlangen.
Die sich an der diesjährigen documenta entzündenden Kontroversen tragen nun dazu bei, dass der ausgestellten Kunst bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde – zumindest von Seiten der Presse. Kaum wird über die ausstellenden Künstler, kaum über einzelne Arbeiten berichtet. Und dabei finden sich auch in diesem Jahr großartige Werke auf der documenta. Ein Beispiel ist die Videoinstallation von Pina Öğrenci im Hessischen Landesmuseum. Sie besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen, einem aus Papiertaschentüchern gefertigten Vorhang, der in diesem Fall als Raumteiler fungiert, und aus einem Video von gut einer Stunde Länge. Natürlich mag man einwenden, dass im Rahmen einer Großausstellung wie der documenta eine Laufzeit von einer Stunde die Besucher überfordert, doch die großartigen Bilder wie auch die Geschichte der Videoarbeit widerlegen einen solchen Einwand unweigerlich. Zugleich wird auch aus dem Video deutlich, in welchem Bezug der aus Papiertaschentüchern genähte Vorhang zum Video mit dem Titel „Aşît“ steht. Gefertigt von den Frauen des Ortes Müküs erfüllt er im Ausstellungskontext die Funktion, das Video gegen den Eingang abzuschirmen und eine Zone des Rückzugs zu schaffen, die den Rahmen für langes Verweilen liefert.
Im Video berichtet Öğrenci über den Herkunftsort ihres Vaters, dem neun von zwölf Monate durch Schnee von der übrigen Welt abgeschnittenen Müküs in den Bergen des südlichen Van an der Grenze zum Iran. Der Ort hatte und hat einen hohen Anteil an kurdisch sprechender Bevölkerung und war entsprechend verschiedenen Übergriffen ausgesetzt. Heute ist der Bevölkerungsanteil von Müküs weit zurückgegangen, doch gelingt es Öğrenci anhand gute Beobachtung und gezielt eingefangener Stimmungen das Leben in Müküs aufzuzeigen und dabei einen Eindruck von den Traditionen aufzurufen, wie beispielsweise dem Verarbeiten der Wolle von Schafen oder den geselligen Treffen zum Schafspiel im Café. toLookAt